Montag, 17. Juni 2002 Freiburg - Langnau

Mit dem Sonnenstand wachsen im Frühjahr auch die Flügel - und die Flausen im Kopf, die bewirken, dass man trotz frischer Temperaturen mit seinem Rad zusätzliche Trainingseinheiten einlegt, dass man abends vor ausgebreiteten Karten durchs Wohnzimmer robbt, in der Schwerelosigkeit seiner Gedankenwelt in 200-Kilometer-Etappen übers Land fliegt, zum Himmelsstürmer wird und in Siegerpose über die höchsten Pässe der Alpen rollt.

Die mentale Schwerelosigkeit der Vorbereitungszeit weicht einer ganz realen Atemlosigkeit, als sich an diesem 17. Juni kurz nach Oberried die erste14-%-Steigung vor mir auftut. Einmal mehr bin ich viel zu spät aufgebrochen. Die Hitze des wolkenlosen Tages staut sich bereits über dem Dreisamtal im Freiburger Osten, wo der Aufstieg zum Notschrei beginnt. 750 Höhenmeter auf den ersten 15 Kilometern, es braucht Zeit, sich mit dem Gepäck anzufreunden. Eine Stunde später 10 km rauschende Abfahrt ins Tal – ein Vorgeschmack auf die kommenden Abfahrten. Dann beginnt das eigentliche Tagwerk: das Auf und Ab der Landstraßen bis Rheinfelden, ein freundlicher Gruß dem Schweizer Zöllner, und weiter mit dem Auf und Ab. Sich selbst zu genügen als Gesellschaft, der Blick auf die Karte, der Vergleich mit den Gegebenheiten vor Ort, die Entscheidung: hier lang.

Mittagspause in Wintersingen, direkt neben einem kühlenden Brunnen. Ich packe die Brötchen aus, trinke das herrlich frische Wasser. In der größten Mittagshitze nehme ich wieder Fahrt auf – das Thermometer steigt an diesem Tag auf über 35°C. Ich genieße die Hitze und den Fahrtwind. Zwischen Rhein und Aare jedoch reduzieren heftige Anstiege letzteren auf ein Minimum, während die Hitze bleibt und der Körper anfängt zu kochen bei Steigungen von vielleicht 16%, auf dem schmalen Sträßchen, das mich bei Hauenstein, kurz vor Olten, ausspuckt. Ich bin über den Verlauf der Straße zunächst etwas überrascht, später verärgert, am Ende aber froh, dass ich überhaupt irgendwo wieder die Orientierung finde. Auf der N2 geht’s hinab nach Olten und weiter quer durchs Hinterland.

Berner OberlandEs bleibt bergig auf meinem Weg in den Schweizer Süden, ein reizendes Dörfchen reiht sich ans andere, Blumen zieren die Fenster der Bauernhöfe, rot-weiße Flaggen allerorten und Brunnen, Brunnen. Zwischen den Weilern mit den sympathischen Namen (Roggliswil, Reisiswil, Gondiswil, etc.) die Schweiz aus dem Bilderbuch: Weiden mit Kühen, um deren wulstige Hälse schwere, laute Glocken hängen. Nach einigen Jahren eines solchen Rinderlebens muss die Schwerhörigkeit eine Erlösung sein.

Die Sträßchen schlängeln sich zwischen den Hügeln und über sie hinweg. Erste Müdigkeit um sechs Uhr abends. Ich kaufe ein für den Abend: Spaghetti und Bier, und für sofort: Joghurt und alkoholfreies Bier. Ausgestreckt im Gras spüre ich meine Muskeln. Es wird schwer sein, den Thuner See heute noch zu erreichen. Die Nacht wartet nicht.Eiger, Mönch und Jungfrau Noch einmal geht es hoch auf die Fritzenflue (929m). Allmählich bewege ich mich auf der Höhe von Bern, 20 km östlich davon; lasse Sumiswald hinter mir. Es ist Abend, die Sonne hat sich verabschiedet, die Luft ist frisch und klar. Ich entscheide mich dafür, in Langnau zu übernachten, wo auf der Karte ein Campingplatz verzeichnet ist. Wenige Kilometer vorher halte ich inne: vor meinen Augen tauchen Alpengletscher auf, fast schon zum Greifen nahe und doch unwirklich wie eine Fata Morgana. Nach 160 Kilometern in den Beinen durchströmt ein Hauch von Glück meinen Körper, ein Frösteln läuft mir über den Rücken. Eine Form der Erleuchtung am Ende eines anstrengenden Tages. Heiterkeit befällt mich. Eine Heiterkeit, die mit dem Tageslicht abnimmt, umgekehrt proportional zur Erkenntnis, dass der anvisierte Campingplatz weit hinter Langnau in einem abgelegenen, ansteigenden Tal liegt – quälende letzte Höhenmeter, bis die Heiterkeit sich in ihr Gegenteil verkehrt hat. Ich schimpfe vor mich hin wie ein Rohrspatz, bis endlich im letzten Licht der Dämmerung der Platz auftaucht, wo ich für diese Nacht mein Zelt aufschlagen werde, genießen werde, wenn das Wasser der Dusche den Schweiß wegspült, den Dreck, die ungezählten Mücken, die mit den Resten der Sonnenmilch auf meinen Armen und Beinen kleben. Im Schein der Stirnlampe koche ich Pasta, öffne meine Dose Bier, fühle mich frei und glücklich.

 

Strecke

178,7 km

Zeit

9:15 h

Schnitt

19,2 km/h

1  |  2  |  3  |  4