Donnerstag, 22. März 2012
| Strecke |
Zum Glück weiß man im Voraus nie, wie die Dinge sich entwickeln, sonst hätten wir in der vergangenen Nacht wohl noch eine weitere halbe Stunde zugebracht, nach einem brauchbaren Schlafplatz zu suchen. Bei allen Annehmlichkeiten, die uns der gegenwärtige Platz bietet, ist er mit dem gewichtigen Nachteil behaftet, dass wir früh in die Arbeitsabläufe eines Supermarktes involviert werden. Es beginnt gegen fünf Uhr morgens mit der ersten Anlieferung. Ab halb sechs versammelt sich die Frühschicht direkt hinter meinem Unterschlupf. Es sind unbekümmerte Naturen und sie sehen keinen zwingenden Grund, auf Langschläfer Rücksicht zu nehmen. Als ich dann gegen sechs Uhr die ersten Lebenszeichen von mir gebe, kommen zwei uniformierte Gestalten auf mich zu und fragen, ob sie mir helfen könnten. Leider bin ich nicht sehr schlagfertig, schon gar nicht um diese Zeit; so lasse ich mir die Gelegenheit entgehen, nach Kaffee zu fragen.
Einmal das Gepäck in den Taschen verstaut, erklimmen wir die die steile Rampe hoch zur Ortsmitte von Belley. In der ersten geöffneten Bar am Straßenrand sendet das Morgenfernsehen Bilder aus Toulouse, wo Spezialeinheiten der Polizei seit knapp 30 Stunden ein Haus belagern, in dem sich ein dreiundzwanzigjähriger Gotteskrieger verschanzt hat, der tags zuvor sieben Menschen, darunter drei Kinder, kaltblütig erschossen hatte. Zum Zeitpunkt seines Todes, gut vier Stunden später, befinden wir uns in der Auffahrt zum Col des Toutes Aurores. Friedliche Landschaften ringsumher, sattes Grün, ein gefälliges Auf und Ab. Ob sich der Junge in den Stunden des Wartens auf seine Liquidierung wenigstens für einen kurzen Moment bewusst machte, was er in dem Moment verlieren würde, wo ihn eine Polizeikugel aus seinem Dasein katapultiert?
Es wundert nicht, wenn das Leben in den Vorstädten der Metropolen solche kranken Hirne hervorbringt - Luftarmut, Beton, Menschendichte, Verwahrlosung, Demütigungen, Armut. Ich frage mich, ob die Menschen, die dort wohnen, nicht denselben Drang verspüren wie ich, auszubrechen, um die Ruhe und die Weite der Natur zu suchen. Sie kennen ihr Ghetto und den nächstgelegenen Park, allenfalls noch, im Sommer, für ein paar Tage überfüllte Strände. Fürchten sie das Misstrauen, das ihnen in der Provinz entgegenschlägt, trotz der Toleranz der französischen Bevölkerung? Oder bedarf es für die Wahrnehmung der Naturschönheiten eines romantischen Ideals, das in den Banlieues keinerlei Nahrung findet, und allenfalls in pervertierter Weise durch potente Autos und Waffen gespeist wird?
Man muss nicht Hölderlin oder Novalis gelesen haben, um das Vercors in vollen Zügen zu genießen. Sollten ihre Geister aber bei deren Gestaltung vor Urzeiten ein Wörtchen mitzureden gehabt haben: es würde einen nicht überraschen. Sie hätten es verstanden, Schönheit auf den Punkt zu bringen. Allein mein Knie verhindert ein übermäßiges Schwelgen, als wir unter der Nachmittagssonne auf der schmalen, verkehrsarmen D 70 in Richtung Léoncel hochmühen. Immer wieder schafft es dieses Gelenk, mir den Tag zu verderben. Die Ursache ist mir zunächst nicht ganz klar, später vermute ich eine fehlerhafte Sitzposition. Mit meinem neuen Titangefährt befinde mich auf der Jungfernfahrt, was die Langstrecke anbelangt. Da scheint etwas Lehrgeld fällig zu werden.
Trotz der frühen Jahreszeit herrschen frühsommerliche Temperaturen, während sich die Bergspitzen der nahen Alpenausläufer noch schneebedeckt hinter der Hügelkette des Vercors auftürmen. Die Knielinge jedoch, die ich in der Mittagshitze ausgezogen habe, ziehe ich mir geflissentlich wieder über. Es ist ein Jammer. In Léoncel, auf der Hochfläche des Gebirges, gibt es eine Cola fürs Gemüt. Das Knie geht leer aus.
In Aouste, nach einer pittoresken Abfahrt zur Südseite des Vercors, habe ich Erbarmen. Ich bin ja kein Unmensch. In der Apotheke gibt es ein entzündugnshemmendes Sälbchen. Was als Wohltat für mein leidendes Gelenk gedacht war, erweist sich jedoch im folgenden Anstieg hoch zum Pas de Lauzens als wirkungslos. Es muss etwas Stärkeres her. Die Alternative wäre, weniger als hundert Kilometer vor Bédoin, unserem Ziel, eine weitere Übernachtung einzulegen. Das würde keiner von uns beiden ertragen. Also bitte ich Urban, schon mal nach Bourdeau vorauszufahren, um den Ladenschluss der dortigen Apotheke nicht zu verpassen. Ich erzähle dies im Vertrauen darauf, dass mir nicht irgendwann Apothekenhopping nachgesagt wird.
Nach einer schmerzhaften, teils einbeinigen Kurbelei treffe auch ich an der örtlichen Niederlassung der Pharmaindustrie ein. Eine Tablette Ibuprofen, niederigste Dosis. Wir versorgen uns noch in der danebengelegenen Epicerie mit Essen und Getränken, rasten, essen. Ein letzter Pass steht uns noch bevor, ehe wir es auf den verbleibenden flachen Kilometer zum Fuß des Mont Ventoux rollen lassen können. Eine letzte Abenddämmerung. Landschaften, die fast so unwirklich schön sind wie in Reisemagazinen. All dies wäre ein paar ordentliche Takte Sphärenmusik wert. Den Col de la Sausse mit seinen 791 Metern erreichen wir in der Dunkelheit. Danach wäre es Zeit für aufgelockerte Orchesterklänge, die schon mal das Happyend andeuten. Denn anders als der Attentäter in Toulouse werden wir nicht getötet und töten niemanden. Wir werden nicht überfahren und überfahren niemanden. Auch der Himmel fällt uns nicht auf den Kopf.
In einer rauschenden Nachtfahrt schießen wir durch enge Schluchten ins Tal der Eygues, passieren Nyons und - bei kurz einsetzendem Regen - Vaison-la-Romaine. Um 22 Uhr rollen wir in Malaucène ein. Wir sind am Fuß des Mont Ventoux, nach 41 Stunden auf der Straße. Grund zu feiern. Allein - Malaucène ist bereits wie ausgestorben. Keine Menschenseele auf der Straße. Also machen wir uns etwas widerwillig auf den Weg nach Bédoin, unserem eigentlichen Ziel. Die Knieschmerzen sind zurückgekommen. Es bedarf weiterer 200 mg Ibuprofen, um im Aufstieg zum Col de la Madeleine, einer kleinen Erhebung zwischen den beiden Orten mit einem bezaubernden Rundblick auf das nächtliche Lichtermeer der Provence, im linken Bein für Ruhe zu sorgen.
Das eigentliche Happyend beginnt um 23 Uhr in Bédoin. Gleich am Ortseingang sitzen zwei junge Leute auf der Terrasse eines Restaurants. Wir bremsen - sollten wir hier unseren Ritt noch begießen können? Aufgeschlossen, wie die jungen Leute nun mal sind, fragen die beiden, woher wir kämen. Danach verbreitet sich unsere Ruhmestat wie ein Lauffeuer in der Gaststätte. Wir bekommen Bier serviert und nach einer anfänglichen strikten Weigerung des Chefs, etwas zu Essen zu machen, schließlich sogar noch ein vorzügliches Sandwich. Eine herzliche Stimmung, ein heiteres Durcheinander und Fragen bestimmen die nächsten beiden Stunden - auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass sich die Anwesenden nicht sicher sind, ob wir sie nicht auf den Arm nehmen.
Mein Blick wandert immer wieder nach draußen. Auf der Terrasse stehen, gegen die Tische gelehnt, unsere beiden Räder. Selbst der hartgesottene Spiritualist wird sich der Magie eines gewissen Schimmers, der im Licht der Straßenlaternen von ihnen ausgeht, nicht entziehen können.
Strecke: |
272 km |
Zeit: |
12:48 h |
Schnitt: |
21,3 km/h |
Höhendifferenz: |
3025 Hm |