Freiburg - Mouthe

Dienstag, 29. März 2011    


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Der März des Jahres 2011 wird in die Geschichte eingehen. In dieser Zeit ist der Reaktor von Fukushima explodiert und die 35-Millionen-Stadt Tokio an einer Katastrophe vorbeigeschrammt, die jedenfalls meine bescheidene Vorstellungskraft sprengt.  Leider wird sich in fernen Zeiten keiner mehr daran erinnern, dass es in unserer Generation nicht nur ölsüchtige und atomstromgeile Einfaltspinsel gab - so wie  vieles andere auch in Vergessenheit geraten wird. Vielleicht auch das Radfahren. Schade drum. Zukünftige Menschen werden, wenn sie sich auf ihren Energiekissen von Ort zu Ort beamen, nicht mehr wissen, dass die Körperteile unterhalb des Bauchnabels etwas mit Fortbewegung zu tun haben könnten. Ein in jeder Hinsicht unschätzbarer Verlust.

Freiburg. Start um 4:15 hNoch ist es nicht soweit. Noch gibt es in unserer Generation Exemplare, die ihre untere Körperhälfte zu höheren Zwecken zu gebrauchen wissen und denen bei Energiehunger in erster Linie nach Nudeln verlangt. Es ist nicht die große Masse, leider. Soweit feststellbar, sind es am Morgen des 29. März um 4.15 Uhr genau zwei in Freiburg. Sie treffen sich, um mit ihren beiden Rädern möglichst rasch den Mt. Ventoux  zu erklimmen, der in etwa so weit von Freiburg weg ist wie der Radius der Verseuchung um die Atomanlage Fessenheim an der deutsch-französischen Grenze bei Nordwind, sollte das Ding erwartungsgemäß dann doch einmal hochgehen. Einer der beiden bin ich.

Räder zählen in der Zeit, in der sich diese Geschichte abspielt, zu den Human Powered Vehicles, den von Menschenkraft getriebenen Fahrzeugen, die auch ohne Öl und Strom erstaunlich gut zurechtkommen. Zukünftige Betracher wären verwundert, uns dabei zu beobachten, wie wir unter heftigem Beinkreisen in der Dunkelheit die Stadt Freiburg hinter uns lassen. Rhein-Rhône-KanalBei Neuenburg betreten wir einigermaßen furchtlos das Land der 58 Atomkraftwerke. Aber um ehrlich zu sein, gibt es neben Fukushima andere Gedanken, die uns Sorgen machen: würde das Wetter halten, wenn es durch's Jura geht oder würden wir vom angesagten Regen weggespült werden? Wir jagen im Morgengrauen durch den Nebel am Rhein-Rhône-Kanal entlang, und sind erstaunt, nicht die einzigen zu sein. Die Temperatur liegt bei drei Grad, und die Knie - ein wichtiges Bauteil beim Radfahren - fühlen sich an wie rostige Scharniere; sie verrichten ihren Dienst aber ohne jenes Ächzen, das man von rostigen Eisenteilen kennt. Ein solches hätte mir eine Warnung sein können. So aber ist das frühe Vogelgezwitscher ungetrübt. Der Radweg entlang des Kanals ist autofrei, die Boote liegen zu dieser Stunde vertäut an den Kanalmauern. Die Schleusenwärter liegen noch in ihren Betten.

MontbéliardAuch versierte Radfahrer sind gelegentlich erstaunt, wie viele Kilometer man allein mit seiner Kraft zurücklegen kann, und wenn man sich nach hundert Kilometern wundert, dass die Caféteria eines Supermarktes noch geschlossen hat, hat man alles richtig gemacht - fast: die Knie wenigstens hätte man wärmer einpacken können, zumindest das linke, denn das macht sich langsam bemerkbar. Es ergibt sich eine andere Frühstücksmöglichkeit in Montbéliard, frische Croissants inklusive. Nach kurzem Kartenstudium geht's weiter entlang der Nationalstraße bis nach St. Hippolyte.  

Es liegt in unserer Natur, dass wir nur wenig Verständnis und schon gar keine Zuneigung für die motorgetriebenen Zeitgenossen hegen. Wir gehen ihnen aus dem Weg. Vallée du DessoubreVielleicht werden uns die künftigen Generationen dafür als feige verschreien. Immerhin: der Weg des geringsten Widerstands führt uns durchs Tal der Dessoubre, das in der Morgensonne in seinen Reizen schwer zu überbieten ist. Vermutlich wird es auch noch in hundert Jahren so sein, und der eine oder andere Leser, der sich dereinst für einen schnellen Kaffee dorthin beamt, wird es sicher nicht bereuen.

das JuraObwohl wir deutlich länger brauchen für unsere Art der Fortbewegung: wir finden tatsächlich Vergnügen daran, auch wenn es auf der N 57 kurz vor Pontarlier getrübt wird durch heftiges Verkehrsaufkommen. Zu sehen, dass wir nachmittags um halb drei bereits 230 Kilometer abgespult haben, hält die Laune aber oben. Die erste große Rast steht an, während der Himmel langsam zuzieht. Die nächste lässt nicht auf sich warten.zum ersten Mal: der Weg nach Mouthe

Um sich mit dem Rad überhaupt fortzubewegen, bedarf es zweier Laufräder und einer Kette zur Transmission der Beinkraft auf die hintere Achse. Eingeleitet wird die Kraft an den Kurbeln: zwei Hebel, einer links und einer rechts vom Tretlagergehäuse, dem Lebenszentrum des Rades - wie beim Menschen ebenfalls in der unteren Körperhälfte und mittig. KurbelbruchUnd in dieser Phase der Geschichte, inmitten eines dieser langen Anstiege im Jura, passiert etwas, was eigentlich gar nicht passieren dürfte: meinem Gefährten bricht der rechte Hebel. Man muss sich das so vorstellen, als wäre das Energiekissen unserer Nachfahren plötzlich zu einer jämmerlichen Wärmflasche geschrumpft. Es geht nichts mehr. So auch die ersten Worte meines Gefährten, als ich mich umdrehe, um zu sehen, wo er denn bleibt: "Die Tour ist 'rum!" Diese Aussage fügt sich vorzüglich ein in den heftigen Regen, der seit geraumer Zeit auf uns niederprasselt.

Radfahrer sind unerschütterlich und wissen, dass es immer eine Lösung gibt. Mein Begleiter entscheidet sich fürs Einbeinigfahren mit etwas Schubkraft von meiner Seite - bis zum nächsten Ort, Mouthe. Die Ratlosigkeit treibt uns zunächst in eine Autoreparaturwerkstatt. "Ein Fahrradgeschäft? Hier?" Der Mechaniker schüttelt mitleidlos sein Haupt. Dann führt uns die Ratlosigkeit ins Touristikbüro - kurz vor Büroschluss. Die Hilfsbereitschaft der beiden Angestellten hilft über die Ausweglosigkeit der Situation nicht hinweg. Das letzte Mittel: ein Taxi zurück nach Pontarlier und dann weitersehen.

Rettung in PontarlierIm Regen geht es eine halbe Stunde später 30 Kilometer zurück ins Tal. Das Taxi ist überhitzt und ich döse auf der Rückbank vor mich hin, bis der Chauffeur uns direkt vor einem Radladen im Industriegebiet absetzt, der tatsächlich noch geöffnet hat. Outdoor-Hotel im JuraMit geübten Handgriffen wird in kürzester Zeit der Intimbereich des Rades meines Mitreisenden saniert. Mit 240 Euro nicht ganz billig, aber alle Dienstleistungen in diesem Bereich haben bekanntlich ihren Preis.

Nach einem Stopp in einem Imbiss machen wir uns in der Dämmerung wieder dorthin auf, wo wir herkommen, in Richtung Hochjura. Vor Mouthe setzt erneut starker, kalter Regen ein und mein linkes Knie japst immer kläglicher vor sich hin. Müssen wir unbedingt heute nacht noch über die 1200-Meter-Grenze? Nein.

Die Nacht verbringen wir in einer Art überdachter Schaftränke irgendwo am Wegesrand, die trocken ist und vor allem sauber. Mein Knie erhält den Auftrag, sich bis zum Morgen zu erholen.

Strecke:

283 km

Zeit:

11:42 h

Schnitt:

24,2 km/h

Höhendifferenz:

1540 Hm

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