St. Germain - Cardan

Freitag, 13. September 2002   


Der Tag beginnt um 6.15h, so haben wir es gestern Abend beschlossen, und tatsächlich sind wir kurz nach dem Wecksignal auf den Beinen. Wenn wir es schaffen, heute anzukommen, können wir den versäumten Schlaf morgen nachholen. Vor uns liegen noch mehr als 200 Kilometer auf welligem Terrain. Wo die hohen Berggipfel fehlen, erliegt man gerne dem Fehlschluss, dass die Höhenmeter nicht ins Gewicht fallen - umso größer ist die Enttäuschung, wenn die tatsächliche Kilometerleistung den Plänen hinterherhinkt. Die vorausgegangenen Tage haben uns vorsichtig werden lassen...

Frühstück in St. GermainDer Campingplatz ist billig und luxuriös, mit Waschräumen, die auch nachts beheizt sind, was dabei hilft, die Wäsche trocken zu bekommen, die am Vortag keine Chance dazu hatte. Zarte Kumuluswolken am Himmel versprechen Gutes für den Tag. Wir verlassen den Platz auf einem kleinen Sträßchen, das um den Ort herumführt; für die Steigung zurück in die Ortschaft fehlt uns gleich zu Beginn die Lust. Über ein Netz unbeschilderter, aber asphaltierter Strecken finden wir glücklicherweise irgendwie zur D 7 nach Meuzac - ohne allerdings damit irgendwelche Höhenmeter oder Wegstrecken eingespart zu haben. Wie nicht anders erwartet, geht es in einem Auf und Ab zunächst weiter nach St. Yrieux, von dort auf der D 704 weiter Richtung Excideuil. Obwohl die Straße auf der Carte Michelin in Rot dargestellt ist, ist der Verkehr nicht sonderlich belastend. Alles in allem können wir über die bisherige Streckenauswahl sehr zufrieden sein. Ein einziger Tag auf einer belebten Bundesstraße in Deutschland bringt vermutlich mehr Verkehrsaufkommen mit sich, als wir die ganzen Tage zusammengenommen über uns ergehen lassen mussten.

In Excideuil missglückt der erste Versuch einzukaufen: die Camemberts in dem kleinen Geschäft sind weit über das Haltbarkeitsdatum hinaus abgelaufen und präsentieren sich in zartem Braun. Schade. Also bedienen wir uns im Supermarkt am Ortsausgang. Zum ersten Mal während dieser Tage ist es heute richtig heiß. Was für eine Wohltat, selbst wenn die eben gekaufte Schokolade im Nu zerläuft. In Coulaures stoßen wir auf den Fluss Isle, der uns die nächsten Hundert Kilometer nicht von der Seite weichen wird. Die Straßen bleiben weiterhin ruhig, erst vor Périgueux, dort, wo unsere Straße bei Sarliac auf die N 21 stößt, nimmt der Verkehr stark zu. Vor Périgueux setzen wir uns in Flussnähe - leider aber auch unweit der Straße - zum Essen hin. Erst am Ende der Pause entdeckt Bertram zehn Meter von uns entfernt eine Bank zwischen Sträuchern, die - direkt am Fluss - ein ruhigerer und angenehmerer Rastplatz gewesen wäre. Aber tatsächlich steht mir der Sinn nicht allzu sehr nach Pause. Ein Fieber hat mich gepackt, das mich drängt weiterzufahren. Grob überschlagen sind immer noch 120 Kilometer zu absolvieren, ehe wir im Ziel einrollen.

Périgueux durchqueren wir nicht ganz fehlerfrei aber ohne große Umwege. Wir verfolgen die D3 am rechten Ufer der Isle, bald lässt der Verkehr wieder nach. Dafür kommt ein warmer Wind auf, der uns, anders als man erwarten könnte, sanft Richtung Atlantik schiebt. Dieser Freitag, der Dreizehnte, verwöhnt uns mit Sonne und Rückenwind. Das Tempo ist zügig, was neben dem Wind auch der guten Stimmung zuzuschreiben ist.

Jenseits der Isle verläuft die N 98, später kommt die A 89 hinzu, auf unserer Seite zeigt sich Frankreichs Verkehrsnetz von seiner angenehmen Seite: links und rechts der Straße Wiesen, Plantagen und bald schon die ersten Weinfelder.

*berquerung der Dordogne bei BranneWir überqueren den Fluss gut 60 km nach Périgueux, in Monpont-Ménestérol. Ein kurzer Halt, um die Muskulatur zu dehnen, Getränke zu mischen, Bananen zu essen. Dann drehen wir in südwestlicher Richtung ab, weg von der Isle, die weiter nach Westen fließt, dem Meer zu.

Etwa 60 Kilometer trennen uns vom Ziel, dem kleinen Ort bei Cadillac inmitten der Weinfelder, wo unser Gastgeber möglicherweise schon den Tisch im Garten für uns gedeckt hat. Die Luft, so meine ich, riecht hier anders, salziger. Der Atlantik, wenn auch noch 100 Kilometer entfernt, ist doch schon zum Greifen nahe. Bis Branne verläuft die Straße einigermaßen flach, am Ortsausgang besorge ich uns noch in froher Erwartung eine Flasche Crémant aus der Region für die Ankunft. Nichts wird uns mehr davon abhalten, heute die Erschöpfung am Ende eines langen Tages auf dem Rad in Triumph umzumünzen, in den Triumph, den Widrigkeiten getrotzt zu haben: Wind und Wetter, unendliche Kilometer rauen Asphalts, der unter den Rädern durchrollt, ungezählte Hügel, Müdigkeit.

Ein kurzer, deftiger Anstieg nach Branne bringt die ausgebrannte Muskulatur zurück ins Bewusstsein. Die letzen 30 Kilometer verlaufen quer durch die Weinberge der premiers côtes de Bordeaux, bergauf, bergab, die glutrote Abendsonne stets im Blick. Hier und da noch ein kurzer Blick auf die Karte, aber die Gegend hier ist mir von meinen vielen Aufenthalten so vertraut, dass er nur noch zur Absicherung der Erinnerung dient. Bei Kilometer 950 etwa passieren wir Targon - ein Dorf, das ein heimeliges Gefühl in mir aufsteigen lässt; die Menschen sitzen vor dem Café, trinken ihren Apéritif. die Ankunft naht!In weniger als einer halben Stunde werden wir vom Rad steigen, ein letztes Mal. Die Sonne ist am Verglühen. Mich erfasst eine ungeheure Energie, ich rase dem Ziel entgegen, Bertram hat Mühe, dranzubleiben.

Dann endlich biegen wir vor Cardan von der Straße links ab, fahren durch die Häuserreihe, steuern auf das Gehöft meines alten Freundes zu. Dort sitzen sie, im Garten, er, sein Bruder, die Schwägerin, die Kinder. Haben auf uns gewartet, gratulieren uns, füllen die Gläser, Anstoßen. Ça y est! Wir sind da. Alle Müdigkeit ist weggeblasen. Was für ein Gefühl! Im schwindenden Tageslicht sitzen wir beim Feuer, wo auf dem Grill der schon der Fisch schmort. Die Gespräche gehen hierhin und dorthin, die Gedanken schweifen zurück zu den vergangenen fünf Tagen: einmal quer durch Frankreich, von Ost nach West - wir haben es geschafft, Wahnsinn!

Wir sitzen lange an diesem Abend, bis weit nach Mitternacht, trinken von dem köstlichen Rosé aus dem Weinkeller meines Freundes; der Abend bringt Gelächter, aber auch Tränen. Schwere Zungen, schwankende Gestalten, die sich zu später Stunde voneinander verabschieden.

Wir werden am nächsten Tag ausspannen, lange schlafen, spät aufstehen, noch eine kleine Radtour durch die Weinfelder diesseits und jenseits der Garonne machen, noch einen Abend am Feuer verbringen, weder Bordeaux noch den Atlantik sehen. Tags darauf wird es in einer quälend langen Fahrt im Auto meines Freundes zurück nach Freiburg gehen, zunächst auf den Straßen, die wir gekommen sind, dann über Autobahnen. Ein Kilometerfressen in industriellem Umfang, ohne Bezug zu Landschaft, Straße, Wetter. Bertram und ich waren Handwerker - Beinwerker. Das Gesellenstück ist uns geglückt.

Strecke

216 km

Gesamtstrecke

962 km

Zeit

9:10 h

   

Schnitt

23,4 km/h

   

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