Wundersames aus dem Jura

ARA Breisgau: 600 km    Freiburg, 7. Juni 2014, 8 Uhr


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Am Ende der Saison ist der Kopf wieder randvoll. Ein Gewirr von Straßen und Wegen. Sonne und Regen, Wind und Wetter, feiner und grober Asphalt, Berge und Täler, Freuden und Leid vermischen sich nach Belieben. Was uns die einschlägigen Chronisten der Langstreckenszene schließlich an Geschichten auftischen, ist der Wahrheitssuche leider auch nicht dienlich: alles geschönt. Verfasst aus einem Gemütszustand heraus, den wir, um die Tradition des Beschönigens fortzuführen, als gelockert bezeichnen dürfen. Ich weiß, wovon ich rede.

Querung des RheinsVielleicht stimmt sogar, was manche hinter vorgehaltener Hand behaupten: dass im Inneren des Randonneurs die Seele eines Romantikers schlummere. Natürlich sträubt sich in Zeiten, wo Qualitätsmanagements und Effizienzkontrollen immer tiefer die Gesellschaft durchdringen, alles gegen eine solche Unterstellung, gleicht sie doch einem sozialen Rufmord. Dennoch muss man der Situation ins Auge blicken. Ist nicht all den Leuten auf ihren muskelbetriebenen Fahrzeugen die Ordnung der modernen Welt ein Graus? Ihre gequälten Seelen suchen immer und immer wieder das Weite. Und wenn es wieder einmal soweit ist, wie an diesem 7. Juni 2014, führen sie sich auf wie Jungverliebte. Am schlimmsten sind die alten Hasen. Keiner will die Strapazen, die solch eine Eskapade mit sich bringt, wahrhaben. Interessieren beim Anblick der neuen Flamme ihre Neurosen, ihre dunklen Seiten? Eben. Sie tasten mit allen Sinnen die Formen der Landschaft ab, und preisen sie - unter dem blauen Himmel - als perfekt. Sechshundert Kilometer? Sechstausend Höhenmeter? Sie finden es erregend. Den vielen, mit denen ich ein kurzes Stück des Weges teile, steht die Freude über den makellosen Sommertag ins Gesicht geschrieben, und selbst die hart gesottenen Routiniers wollen, nicht anders als der unerfahrene Liebhaber, nicht glauben, dass diese herrliche Zeit des Verliebtseins jemals vorübergehen könnte. Effizienzkontrollen können ihnen gestohlen bleiben. Da haben wir's.

Wasser!Schlimmer noch: ebenso wie er sie fürchtet, fiebert auch der abgebrühte Randonneur - ja, besonders dieser ist gefährdet - der Nacht entgegen, als gäbe es auf den sechshundert Kilometern, die vor ihm liegen, irgendwo einen geheimen Ort, wo sich ihm seine heutige Liebe hingibt. Voller Elan meistert er die Hügelketten des Sundgaus im Sturm, man will sich ja, gerade am Anfang, keine Blöße geben. Die Augen funkeln begeistert und wild. Man kann - bei aller Kritik - allerdings auch froh sein, dass es heutzutage überhaupt noch solche Menschen gibt. 

Im schattigen Aufstieg hoch zum Col de Montvoie wird der Tritt gemächlicher, aber die Leidenschaft ist ungebrochen: sie wird belohnt durch eine ungestüme Abfahrt hinunter nach Glère. Es heißt, ein mir bislang unverdächtiges Individuum habe hier vor Freude lauthals gesungen. In manchen Situationen ist es fast unmöglich, sein wahres Innenleben zu verbergen. Ich höre davon, als einer meiner Mitfahrer wegen eines Reifendefekts innehalten muss. Mit Erstaunen nehme ich zur Kenntnis, dass er Gummihandschuhe mit sich führt. Bei einer Qualitätskontrolle hätte er immerhin nichts zu befürchten.

In dem Maße, wie er sie liebt, leidet der Romantiker an der Welt. Pause in La-Chaux-de FondsEs fehlt ihm an einer professionellen Distanz. Auf den gewundenen Straßen des nachmittäglichen Jura wäre sie ein Segen: es ist brütend heiß geworden. Planlos halte ich am ersten Geschäft in La Chaux-de-Fonds und es gibt niemanden hinter mir, der murrt. Literweise rinnen Kaltgetränke durch ein halbes Dutzend ausgetrockneter Kehlen. Man sehnt sich zunehmend nach der Nacht, die - so redet man sich ein - den Mühen des Tages ein Ende bereitet. Der nächste Anstieg zum höchsten Punkt der Tour: er führt hoch zum Col de Vue des Alpes auf 1280 Meter. All unsere Bestrebungen bis hierhin finden auch in diesem Jahr keine Erwiderung: der verheißene Alpenblick bleibt uns ein weiteres Mal versagt.

Hochtal von La BrevineDie große Stunde des Randonneurs ist, wie die des Romantikers, die der Dämmerung. Das eigentliche Abenteuer beginnt jetzt. Schweißnass sitzt er vor einer namhaften Pizzeria in Champagnole, deren skrurriles Retro-Interieur ganz vorzüglich sein eigenes Interieur spiegelt. Er scheut die Anstrengung, sich die Treppe hoch aufs Klo zu schleppen, und ist doch in seinem romantischen Fieber voller Erwartung der Eroberungen, die er nach dem Nachtmahl zu machen gedenkt. Wenigstens verkneift man sich die Peinlichkeit, im Überschwang der Gefühle absurde Liebeserklärungen ans  sternenübersäte Universum hauchen.

ChampagnoleEs ist die Nacht, die den Randonneur vom gemeinen Radfahrer trennt, der längst unter der Dusche gestanden hat und in die Normalität zurückgefallen ist. Im Randonneur lodert noch immer das Feuer. Sein Blick klebt am grau-schwarzen Asphalt, der ihm mit jeder Kurbelumdrehung dem Leiden näher bringt. Aber es braucht seine Zeit, bis diese Erkenntnis reift. Es braucht den Schlag der Turmuhr, die um Mitternacht den neuen Tag ankündigt. Wie die zuckenden Schatten neben mir fühle ich mich wieder erstaunlich gut bei Kräften. Dann, gegen halb drei Uhr nachts, bei der fünften Kontrolle in Gonsans, ist es soweit: um mich herum liegt ein halbes Dutzend Männer verstreut am Boden, vor einer Bäckerei, wo in der Backstube bereits Licht brennt, oder gegenüber, auf dem Trottoir, wo um diese Zeit keine Betrunkenen mehr drüberstolpern. Das Leiden ist bereits zum Greifen nah. 

Es braucht den langen Weg nach Vesoul. Ungefähr dort, wo wir den Doubs gequert haben, in Baumes-les-Dames, setzt bei mir dieses Flehen ein, die Dämmerung möge sich doch zeigen, ehe ich vom Rad falle. Man wird zum Liebhaber, der am Ende einer langen Nacht einsam und mit gebrochenem Herzen nach Hause stolpert. In diesen Momenten fiebert keiner mehr. Hin und wieder werden ein paar Wortfetzen hin- und hergeschoben. Jeder hat mit sich selbst genug zu tun. Der eine oder andere bleibt zurück. Wir befinden uns nun in der dramatischen Phase.

MorgendämmerungUnd endlich kommt sie, die Morgendämmerung. Sie hat mein Flehen erhört. Anders als in Liebesdingen ist auf den Verlauf der Gestirne Verlass. Das Ziel der Unternehmung war jedoch nicht, im Café gegenüber des Bahnhofs von Vesoul die Auslagen mit den Backwaren abzuräumen. Das Ziel ist die Rückkehr nach Freiburg. Hätte ich eben noch für den anbrechenden Tag einen ganzen Kasten Bier hergegeben, so ist es nun für den Moment, wo ich mein leidgeprüftes Rad an die Wand lehnen kann, um über Stunden, die mir so verlockend scheinen wollen wie das Paradies selbst, essend und trinkend am heimischen Wirtshaustisch zu verweilen - ohne die Not, weiterfahren zu müssen. Dies alles ist nicht sehr logisch, aber wiederum sehr typisch.

Die Erlösung erfolgt gegen 13 Uhr.

Zur Pasta bestellt der Finisher ein, zwei Bier und stiert ins Leere. Und mit jedem Schluck wächst seine Verwunderung darüber, was für eine irrsinnig tolle Tour er hinter sich gebracht hat. Die Psychologie kennt solche Symptome. Bis zur Heilung soll es ein langer Weg sein - was unserem Naturell sehr entgegenkommt. Ich kenne Leute, die scharren schon wieder mit den Hufen. 

Strecke:

618 km

Höhendifferenz:

6000 hm

Fahrzeit:

23:36 h

Schnitt:

26,2 km/h

Gesamtzeit

29:06 h

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