ARA Breisgau: 400 Kilometer Freiburg, 7. Mai 2011, 8.00 Uhr
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Wir werden geboren und wir sterben. Die Zeit bis dahin überbrücken wir im Wesentlichen mit Arbeit und Sex, seiner Vorbereitung (Balz) und seiner Nachbereitung (Kinderaufzucht, Beziehungspflege). So einfach ist das. Damit wir den Dingen nicht vor der Zeit überdrüssig werden, brauchen wir Ablenkung. Viele gehen leidenschaftlich gerne shoppen. Eine schöne Sache. Ein paar wenige Zeitgenossen haben statt dessen irgendwann einmal begonnen, Brevets zu fahren, dann noch eins und dann nochmal eins. Sie haben einen Kollegen mitgebracht, dann noch einen und noch einen. Und von all den Leuten findet dann der eine oder andere auch den Weg nach Freiburg, wo nun seit längerem Brevetfahrern zur nötigen Ablenkung verholfen wird.
So eine Ablenkung ist eine recht schlichte Angelegenheit. Man lässt die Ansprache der Organisatoren über sich ergehen, schnappt sein Rad und rollt frühmorgens hinein in die Sonne, in Zweierreihe zwischen hundert anderen, und begibt sich auf den langen Weg zum Rheinfall in Schaffhausen, weiter zum Bodensee, dann Donautal, dann Freudenstadt. Und schon ist man zurück in Freiburg. Wir rasen dem Glück in die weit ausgestreckten Arme. Wer denkt in diesem Moment an Pflichten? Man fühlt nur dieses Prickeln, das wie frisch getrunkener Schampus die Sinne benebelt. Schaff ich's, schaff ich's nicht?
Wir schrauben uns hoch zum Thurner und erhalten beim Blick zurück ins Tal eine Ahnung von der Nichtigkeit der Dinge, um die sich da unten alles zu drehen scheint. Den vielen Randonneuren, die über mir sind oder die die Serpentinen unter mir säumen, wird es nicht anders ergehen. Hier oben ist alles an seinem richtigen Platz: wir mit unseren Rädern, die Wiesen und Bäche, die Wälder, und über allem die über die Maßen freigiebige Sonne.
Man hat seine Gruppe gefunden und auch hier ist alles am richtigen Platz. Wir sind zu acht, wirbeln nach Bräunlingen und weiter über die vielen kleinen Wege zum Rheinfall. Mit Tausenden von Touristen werfen wir einen Blick auf die tosenden Wassermassen - vielleicht nicht so ausführlich, wie all diejenigen, die von sehr viel weiter her angereist sind, um dieses Spektakel zu bestaunen. Unsere Ablenkung duldet keine weitere Ablenkung.
Bei jedem Brevet fahre ich mit neuen Leuten, großen, kleinen, hageren, stämmigen. Man macht sich so seine Gedanken: wer wird wohl als erster seine Flügel hängen lassen angesichts der mörderischen Geschwindigkeit, mit der wir dem Gegenwind nach Konstanz Paroli bieten? Ich bin es nicht - es hätte mein Leben aber vermutlich leichter gemacht. In Konstanz machen wir den Fehler, uns mit einem kurzen Stopp an einer Bäckerei zu begnügen, obwohl mein Magen zu diesem Zeitpunkt noch mehr als ein, zwei Käsebrötchen hätte fassen können.
Die Landschaft im fast hochsommerlichen Licht ist zauberhaft, ob Bodensee, Donau- oder Bärental, und die Energie, mit der wir in unserem geschrumpften Sechser-Team der fliehenden Zeit die Kilometer abtrotzen, übersteigt alles, was je ein Chef von seinen Angestellten erwarten könnte. Sollte er daran zweifeln, sei ihm ein Blick auf die Jammergestalten empfohlen, die bei Kilomter 313 vor einer Tankstelle in Freudenstadt vegetieren: bleich, ausgezehrt, abgestumpft, kaum in der Lage, irgend etwas Nahrhaftes durch die Speiseröhre zu zwängen. Ich rede von mir, aber versteige mich zur Behauptung, dass es dem einen oder anderen meiner Gruppe nicht viel besser ergeht. Mit solchen Mitarbeitern, lieber Chef, ist kein Staat zu machen. Zuvor haben wir Kilometer um Kilometer getreten wie die Ochsen, man will sich ja nicht lumpen lassen, wenn es darum geht, seinen Platz im vorderen Teil des Pelotons zu verteidigen. Hier aber frage ich mich sehr ernsthaft, ob man die Sache nicht dezenter angehen sollte, dem Zweck wäre nicht weniger gedient.
Es folgt die lange Abfahrt durchs Wolfachtal zur Stunde der Abenddämmerung - was für eine wohltuende Entschädigung. Am höchsten Punkt, bevor wir uns in die Tiefe ziehen lassen, ist noch Tag. Als wir gefühlte Sekunden später von den Pflastersteinen der Wolfacher Innenstadt durchgerüttelt werden, ist nur Dunkelheit über uns und eine schmale Mondsichel am Horizont. Es ist wunderschön. Bis zu dem Moment, wo sich der Anstieg zum Landwassereck mit seinen extremen Rampen wie eine schwarze Wand vor uns auftut. Wie soll ein Mensch nach 350 Kilometern auf dem Rad hier noch hochkommen?
Es sind Momente, wo man genug hat. Wo man die Geborgenheit eines krisenfesten Arbeitsplatzes herbeiwünscht und sich schwört, nie wieder über Stress klagen zu wollen. Wo man sich nach den stilleren Gewässern der häuslichen Idylle sehnt und nichts lieber verspricht, als sich künftig den Strapazen der Hausarbeit mannhaft zu stellen. Solche Versprechen halten leider nicht ewig. Dann wird es wieder Zeit, das nächste Brevet ins Auge zu fassen.
Strecke: |
405 km |
Höhendifferenz: |
3790 hm |
Fahrzeit: |
13:49 h |
Schnitt: |
29,3 km/h |
Gesamtzeit |
15:50 h |