Ich zähle zu der Generation – dem Schicksal sei Dank! –, die nie einen Krieg erlebt hat. Meine Eltern waren noch Kinder, als die Bombenangriffe der Alliierten zum Kriegsende hin immer schlimmer wurden. Mit ihren neun Jahren sah meine Mutter den blutroten Himmel in der Nacht des 17. Dezember 1945. Das war, als die Stadt Ulm, 80 Kilometer entfernt von ihrem Heimatort, in Flammen stand.
Ich kenne den Krieg aus Erzählungen, aus Büchern. Oft habe ich versucht, mir das Grauen in jenen Zeiten vorzustellen. Die Soldatenfriedhöfe in den Vogesen sind stumme Zeugen davon.
Vor etlichen Jahren habe ich die Festungsanlagen von Verdun besichtigt mit ihren riesigen Friedhöfen und der Halle mit den übereinander gestapelten Gebeinen. In einem der Bunker zündete der Fremdenführer einen unscheinbaren Böller, um zu demonstrieren, welchem Lärm die Soldaten von morgens bis nachts ausgesetzt waren. Wir alle zuckten vom entsetzlichen Widerhall des Donnerschlags in diesen unterirdischen Gewölben zusammen.
Bei einer Radtour, Jahre später, kam mir dieses Erlebnis wieder in Erinnerung, als ich mich in Begleitung meiner Frau in einem unbeleuchteten Tunnel oberhalb des Gardasees befand. Von vorn kamen Autos, von hinten näherte sich ein Lkw. Das Dröhnen seines Motors fuhr mir durch Mark und Bein. War es ein Zwölf- oder ein Dreißigtonner? In diesem Höllenlärm schien er, ohne vom Gas zu gehen, auf uns zuzurasen. Ich starrte krampfhaft nach vorn, unfähig, seine Geschwindigkeit und Entfernung einzuschätzen, bemüht, das Rad in der Spur zu halten. Ausweichen: unmöglich. Das Gefühl, dieser Macht ganz und gar ausgeliefert zu sein, lähmt den Verstand. Mein einziger Gedanke war: Lieber Gott, lass uns hier lebend rauskommen!
Bei mehr als einem Überholmanöver eines Lastwagens waren es nur wenige Zentimeter und das Glück, im entscheidenden Moment den Lenker ruhig gehalten zu haben, denen ich vermutlich mein Leben verdanke. Aber solche Vorfälle gehören zu den Risiken unseres Alltags und haben mit Krieg glücklicherweise nichts zu tun...
September 2003