Carcès, 5. September 2012, 8 Uhr
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Am 21. Dezember ist Feierabend. An diesem Tag läuft nach 5128 Jahren der Maya-Kalender aus und Leute, die meistens alles besser wissen, schwören Stein und Bein, dass das Leben auf dem Planeten kurz vor der Weihnachtsbescherung erlöschen wird. Das erspart uns einerseits den Kauf von Weihnachtsgeschenken, andererseits aber nicht die Frage, was man mit seinen Jahren so angestellt hat. Gerade als Mann hat man gemäß alter Volksweisheit ein seriöses Pflichtenheft abzuhaken: einen Baum pflanzen, ein Haus bauen, einen Sohn zeugen. Vom Brevetfahren wussten unsere Altvorderen noch nichts. In einer aktuellen Ausgabe einer solchen To-Do-Liste wäre dies aber meiner Meinung nach dringend zu ergänzen, damit man auch als Normalverdiener mit etwas Stolz auf Geleistetes zurückblicken kann, wenn der Vorhang fällt.
In diesem Zusammenhang will es einem geradezu als Fügung erscheinen, dass sich angesichts dieser düsteren Prognosen noch eine herausragende Gelegenheit bietet, ein paar Bonuspunkte fürs Letzte Gericht zu sammeln: der Mille du Sud mit seinen 16.000 Höhenmetern, verteilt auf 1000 Kilometer Provence, die in 75 Stunden hinter sich gebracht werden müssen. Wer das schafft, hat es verdient, dass die Häuptlinge, die dereinst über unseren Lebenswandel zu richten haben, ein Auge zudrücken und unsereinen nicht postwendend der ewigen Verdammnis anheimgeben.
Es wird also gut sein, die ganze Angelegenheit mit etwas Verstand anzugehen. Was nicht ausschließt, dass man am Vortag landestypisch seinen Aperitif im Café du Centre zu sich nimmt. Oder zwei, nachdem sich keiner der namhaften Randonneure blicken lässt. Wo sind sie nur? Haben sie kurz vor knapp noch schnell den längst geplanten Hausbau in Angriff genommen? Oder ganz schlicht gekniffen? Oder sind sie etwa, in einem Anflug von Panik, noch verzweifelt trainieren gefahren, anstatt sich in den letzen Stunden vor dem Start zum Mille du Sud in just jener Gelassenheit zu üben, mit der wir schon in Kürze möglicherweise dem Weltuntergang stoisch entgegensehen werden? Nach dem dritten Aperitif, allein zwischen der Laufkundschaft des Lokals, habe ich genug. Sollen sie doch zur Hölle fahren.
Wie sich herausstellt, gab es viele Gründe, nicht zufällig am Café du Centre aufzukreuzen. Was zählt, ist, dass sie nun, am Mittwochmorgen, alle hinter dem roten Band, das die Startlinie markiert, versammelt stehen: Fünfundvierzig Randonneure aus Frankreich, Deutschland und etlichen anderen Ländern Europas und außerhalb, bereit fürs himmlische Bonusprogramm. Vor uns liegt die spätsommerliche Provence mit ihren Hügeln, Schluchten und Pässen. Eine Vorahnung des Herbstes liegt in der milden Morgenluft. Als das Band von Sophie Matter, der Organisatorin, zerschnitten wird, schiebt mich eine überirdische Macht hinaus in die Welt des Südens. Dazu bedarf es nicht der geringsten Überwindung. Man muss alles nur geschehen lassen.
Die erste Station ist der Lac Sainte-Croix, den wir zwei Stunden später erreichen. Als Versuchung in Blau liegt er vor uns. Geräuschlos befahren wir die Brücke oberhalb der Staumauer. Wie das Zirpen der Zikaden klingt der Freilauf mancher Hinterräder. Der Blick vom anschließenden Plateau de Valensole auf den Gebirgszug des Parc regional du Verdon ist grandios. Die Lavendendelfelder verströmen ihren unverwechselbaren Duft. Allem Anfang wohnt ein Zauber inne...
Die erste Kontrolle kommt nicht, wie auf der Brevetkarte angegeben, nach 144 Kilometern, sondern auf dem Col d'Espinouse bei Kilometer 86: Geheimkontrolle. Wir werden von der Organisatorin mit Getränken und Kuchen verwöhnt. Es gibt einen ersten Stempel ins Heft, aber sicherlich keine Bonuspunkte für die ewigen Jagdgründe.
Nächstes Highlight: die Gorges de la Méouge. Es folgt der Mont Ventoux - wir umfahren ihn südlich mit einer Schleife durch die pittoresken Gorges de la Nesque. Die Seele tanzt im Rythmus der Kurbelumdrehungen. Stopp in Bédoin, Kontrollstempel besorgen, Essen fassen, rauf aufs Rad. Blauer Himmel bei leichter Bewölkung, Temperaturen im grünen Bereich. Alles ist zum Besten bestellt. Es wäre jammerschade, wenn dies meine Abschiedsrunde durch die Provence wäre...
Zu dritt entscheiden wir uns in Vaison-la-Romaine bei Kilometer 250 für den ersten größeren Stopp zwecks Nahrungsaufnahme. Selbstverständlich vermeiden wir alle Exzesse, um den Erfolg unserer Unternehmung nicht zu gefährden, und ich beschränke mich auf eine landestypische, aber bescheidene Dosis Rosé. Die Route für heute Nacht führt nach Norden, entlang der Westseite des Vercors. Als wir Vaison verlassen, kommt Wind auf: der gefürchtete Mistral aus Nordwest. Zum Rhônetal hin frischt er auf. Auf den folgenden 150 Kilometern, die zu den flachsten des gesamten Parcours zählen, wird er uns das Leben schwer machen. Wir drei sind froh, als es auf der Weiterfahrt zum Zusammenschluss mit einer Gruppe von Italienern kommt. Gemeinsam strampeln wir uns ab, um in den Hügeln zwischen dem Rhône, der Isère und dem Vercors den Tacho gelegentlich auf 25 km/h hochzupeitschen. Der erste Bonuspunkt ist in Reichweite. Vorher aber noch einen schnellen Kontrollstempel in Crest in einer Dönerbude und ein letztes Cola für die Nacht. Es geht auf 0 Uhr zu.
Das Leben eines Randonneurs ist herrlich: Fahren, Essen, Trinken, Stempeln. Und bei Bedarf schlafen, und zwar genau dort, wo einen die Müdigkeit überkommt. Im Dreierpack legen wir uns für eine gute Stunde auf das Rasenstück vor einer Dorfkirche am Wegesrand. Der aufgeschreckte Hund in der Nachbarschaft verhindert allerdings mit Nachdruck, dass mir mehr als ein paar Minuten oberflächlichen Schlafs vergönnt sind. Am Ortsausgang wartet zur allgemeinen Freude erneut das Organisatorenteam mit Sophie und Bernard mit einer Geheimkontrolle auf uns. Es ist drei Uhr morgens und abermals ist der Tisch reich gedeckt; sogar ein Kanister Rotwein steht auf der Auslage ihres mobilen Verpflegungsstandes. Hier heißt es vernünftig bleiben - wer weiß, ob die Häuptlinge in solchen Dingen überhaupt Spaß verstehen...
Das Großartige an diesem Brevet sind ja nicht nur die bezaubernden Landschaften sondern die Aussicht auf unsägliches Leiden angesichts der enormen Zahl an Höhenmetern. Noch vor Morgengrauen meine ich zu vernehmen, wie ein Jauchzen durch unsere Gruppe geht, als in den Gorges de la Bourne, im Norden des Vercors, endlich die ersten langen Anstiege durchlebt werden dürfen. Die Freude ist allerdings von mäßiger Dauer: kurz vor dem vermeintlichen ersten Höhepunkt ist die D 103 gesperrt. Ein Durchkommen wäre angesichts des gähnenden Abgrunds auf der Seite nur unter Einsatz seines Lebens möglich. Verwirrung macht sich breit und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich sie dazu nutze, den falschen Weg einzuschlagen: die grobe Richtung stimmt zwar - es geht bergan, aber eben nicht nach Süden, sondern entgegengesetzt. Ein rundes Dutzend erfahrener Kollegen folgt mir durch den nächtlichen Nebel, bis dann nach langen Kilometern der erste endlich darauf drängt, die Angelegenheit doch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Nach gründlichem Kartenstudium fahren wieder hinunter nach La Balme-de-Rencurel. Der laufende Motor eines Schülerbusses deutet auf Leben im Ort hin und nach langem Klopfen und Rufen findet sich ein ortskundiger Mensch, der uns den richtigen Weg nach Chapelle-en-Vercors und zum Col de Rousset weist. Sollten diese zusätzlichen Kilometer meinem himmlischen Konto gutgeschrieben werden, bereue ich nichts.
Im Vercors erwarten uns Kälte und Nebel. Und ein Frühstück in einer kleinen Bäckerei am Wegesrand. Da wir uns auf der windgeschützten Seite des Massivs befinden, kommt uns auf dem Weg zum Col de Rousset kein Mistral zur Hilfe. Jenseits des Tunnels, der die Passhöhe auf 1254 Meter markiert und von wo das Gebirge abrupt zum Drômetal abfällt, faucht der Wind jedoch entfesselt und jagt düsteres Gewölk über die felsigen Bergspitzen. In unzähligen Serpentinen schwinge ich mich, die Wolken hinter mir lassend, ins Tal - die sonnigen Gefilde des Südens haben mich wieder. Ich treffe auf die ersten Kollegen, die im Begriff sind, den Bettel hinzuschmeißen. Anzunehmen, dass sie bereits ihr Haus gebaut haben - sie kommen aus dem Schwäbischen.
Sollten die Vorsitzenden des letzten Gerichts bis hierhin einen oder zwei Punkte angerechnet haben, wäre zu erwarten, dass auch der Col de Menée mit einem kleinen Pluspunkt bedacht wird. Zwar ist er auch nach einer durchwachten Nacht in seinem gleichmäßigen Anstieg wirklich schön zu befahren, aber mit 1457 Metern haben wir immerhin den vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Abfahrt danach lasse ich mir ebenfalls gefallen. Kurz vor ein Uhr hole ich mir einen Stempel in einer Bäckerei in Clelles, der fünften Kontrolle. Auch diese Hürde wäre genommen. Die Hälfte der Strecke haben wir hinter uns gebracht. Wer allerdings glaubt, dies wäre ein Grund für eine Runde Schampus, ist auf der falschen Veranstaltung. Noch liegt der Col du Festre vor uns, was an sich kein größeres Problem darstellen würde, wäre der Weg bis dorthin nicht so furchtbar wellig. Im Nachmittagstief kämpfen wir gefühlte Ewigkeiten mit den Anstiegen, die wiederum in überraschend kurzen Abfahrten neutralisiert werden. Eine Gemeinheit, die wir in dieser Phase des Geschehens zu zweit über uns ergehen lassen müssen. Falls die Häuptlinge etwas von der Materie verstehen, werden sie dies zu vergüten wissen.
Trotz der großen Gastfreundschaft der Betreiber der Gaststätte auf dem Col du Festre halten wir uns hier nicht allzu lange auf. Der Tag ist bei weitem noch nicht ausgereizt. Das Ziel heißt Barcelonnette am Fuß des Col de la Cayolle. Natürlich folgt auf den Col du Festre gleich der nächste Pass, der Col d'Espréaux auf 1160 Metern - wie sonst sollten wir auf unsere 16.000 Höhenmeter kommen? Man darf diesen kleinen Zwischenanstiegen keinesfalls allzu viel Gewicht beimessen, um nicht ins Jammern zu verfallen. Für eine herzerfrischende Aufmunterung sorgen zu späterer Stunde noch einmal Sophie und Bernard mit ihrer dritten Geheimkontrolle inmitten der abendlichen Berglandschaft: ihre Energie und ihre Essensvorräte scheinen unerschöpflich. Auf ihrer Starterliste sind bereits fünfzehn Kreuze vermerkt: Es sind diejenigen, die bis dahin abgebrochen haben, ein Drittel aller Starter.
Nachdem wir bis ins Tal der Durance vorgestoßen sind, erweist sich der Weg nach Barcelonette als lang und zäh. Zudem sinken die Chancen auf eine offene Gaststätte mit jeder Minute, die wir uns der Route entlang hangeln, und schon habe ich innerlich aufgegeben, heute noch irgendwo eine warme Mahlzeit zu mir zu nehmen, als wir gegen Viertel nach neun direkt auf einen Pizzastand zufahren. Es ist keine Fata Morgana. Den fünf bisherigen Gästen - zwei kalbsgroßen Hunden und ihren drei jungen Besitzern, die ihrem Erscheinungsbild nach ebenso bedauernswert sind wie wir - gesellen sich in kürzester Zeit eine Handvoll Abenteurer aus der radfahrenden Zunft hinzu.Auf die Gefahr hin, an dieser Stelle Punktabzug zu bekommen: diese Pause verleiht der Seele wieder Flügel.
Sie sind notwendig, um Barcelonnette heute überhaupt noch zu erreichen. Die Straße steigt und steigt, die Kälte kriecht unter die Haut. Meine Begleiter fallen zurück, am Ende bin ich gänzlich alleine, als ich um 0.30 Uhr im Schneckentempo mein Tagesziel erreiche. Ich suche verzweifelt einen Schlafplatz. Heute Nacht noch den Pass anzugehen, kommt nicht in Frage. Ich bin erledigt. Rien ne va plus.
Unter den Briefkästen eines - ihrer Beschriftung nach zu urteilen - wenig bewohnten Hauses schlage ich im Eingangsbereich mein Nachtlager auf. Das Problem ist, dass bei jedem vorschnellen Handgriff der Bewegungsmelder anspringt und mein unbotmäßiges Tun etwaigen Passanten enthüllt. Zum Glück ist ihre Zahl überschaubar. Der Betonboden ist kalt und mein Schlaf ist trotz der frischen Höhenluft nicht wirklich erholsam. Drei Stunden sind mir gewährt. Die Weiterfahrt ist auf halb fünf angesetzt.
Barcelonnette, 7. September, 4.30 Uhr
In Randonneurskreisen gilt die Mitnahme einer Fleecedecke als verpönt und vorbehalten für furchtsame Naturen. Sollte der prognostizierte Weltuntergang tatsächlich eintreffen, wäre es schön, die betroffenen Personenkreise würden diese Ansicht für sich behalten, um meine bisherigen Leistungen nicht zu schmälern. Außerdem muss man die entsprechenden 250 Gramm auch mit sich herumtragen. Ohne Frostbeulen im Gesicht und an den Extremitäten finde ich mich um 4.30 Uhr am verabredeten Treffpunkt ein. Unser Zweierteam funktioniert seit dem Vercors tadellos. Auch mein Partner aus Bayern - soviel habe ich unterwegs erfahren - hat seine Defizite im Pflichtenheft eines Mannes, und zeigt sich wohl auch deswegen wie ich hochmotiviert in seiner Herangehensweise. Dies beweist allein seine Pünktlichkeit, als es nun darum geht, das Dach der Tour zu erobern: den Col de Cayolle auf 2326 Metern.
Die nächtliche Straße sieht im Scheinwerferlicht aus wie ein Rorschachtest, der allerlei gespenstische Assoziationen hervorruft. Links oder rechts von uns lauert der schwarze Abgrund, von dem uns nur flache Felsblöcke trennen. Das alles ist ganz nett anzusehen. Wäre da nur nicht dieses mühselige Ringen mit der Schwerkraft zu dieser frühen Stunde, ohne etwas Vernünftiges im Magen! Im Schritttempo bewegen wir uns in den anbrechenden Tag hinein. Je mehr das Auge jedoch die Dunkelheit durchdringt, umso mehr wandelt sich dieser mühevolle Aufstieg in eine frühmorgendliche Genussfahrt. Vermutlich verspüre ich oben, während die ersten Berggipfel bereits von der Sonne angestrahlt werden, so etwas wie Glück. Kurz nach uns rollen zwei weitere Randonneure über die Passhöhe - darunter ein in der Szene auffällig gewordener Filmemacher.
Den Reißverschluss meiner Jacke ziehe ich bis unters Kinn zu, lange Handschuhe und Überschuhe sind obligatorisch für die Abfahrt. Auch so ist es noch kalt genug. Ganz anders in Guillaume, der nächsten Kontrolle. Bis dahin haben wir 1500 Höhenmeter vernichtet und diverse Klimazonen durchfahren. Bis dies der ausgemergelte Körper aber registriert, braucht es mehrere Tassen Milchkaffee auf einer sonnenbeschienenen Terrasse eines Cafés. Nach und nach füllt sich das Etablissement mit einem Gutteil der Schwerstarbeiter, die mit mir seit zwei Tagen auf der Strecke sind.
Ein langes Brevet ist eine Art Ausnahmezustand für denjenigen, der sich dem Ankommen verschrieben hat. Man schläft zur Not auf einem Fußabstreifer. Man nimmt seine Zahnbürste mit auf die Toilette. Man schmiert sich ungeniert Creme auf den Hintern, im Zweifelsfall ohne allzu viel Rücksichtnahme auf etwaige verunsicherte Blicke Unbeteiligter. Und man steigt dann aufs Rad, wenn man das Gefühl hat, eingentlich keinen Meter mehr fahren zu wollen. Der erfahrene Randonneur weiß, dass einem der Körper mitunter einen Streich spielt, nur um sich auf die faule Haut legen zu können. Kaum hat man ihn wieder in die Gänge gebracht, fügt er sich wie ein alter Klepper seinem Schicksal. Er trabt hoch nach Valberg, einem Wintersportort, den man ebenso schnell hinter sich lassen kann, wie man gekommen ist. Er legt an der vierten Geheimkontrolle dankbar einen Stopp ein und wiehert vor Freude. Sophie ist zurückgeeilt nach Carcès, um in Bälde die ersten Ankömmlinge in Empfang zu nehmen. An ihrer Stelle steht seit vergangener Nacht Joseph Maurer an der Strecke, ein Mann, der ebenso wie Sophie viel Herzblut in dieses Brevet investiert hat, und drückt jedem, der bis hierhin durchgehalten hat, einen weiteren Stempel in die Brevetkarte. Für die einsamen Stunden zwischendurch liegt seine Zither im Auto. Was für ein unglaubliches Engagement!
Die Lebensgeister kommen zurück. Es tritt dieser merkwürdige Zustand ein, ohne den man ein solches Brevet nie zuende fahren könnte; ein Wechselspiel von Biochemie und Psyche. Glückshormone schießen ein, der Körper wird leicht, scheint zu schweben. Alle Müdigkeit ist verschwunden. Die Beine leben in ihrem eigenen Universum und kreisen, kreisen, kreisen. Der Weg hoch zum Col St. Martin auf 1500 Meter ist ein Leichtes, trotz der Hitze, trotz der 800 Kilometer in den Beinen. Es gibt Brunnen an der Strecke, man schüttet das Wasser über sich, spült den Schweiß in den Rinnstein, labt sich an der Kühle.
Noch 200 Kilometer, die nächsten fünfzig davon gehen bergab. Der dritte Abend bricht an. Die Fahrt nach Vence ist leidvoll wegen des Feierabendverkehrs. Wir werden geschnitten, abgedrängt. Es ist wenig erbaulich, trotz der vielen Ausblicke über Nizza und das Mittelmeer. Nach dem 21. Dezember werde ich mich dafür stark machen, dass all diesen Rüpeln ordentlich Punkte für die Lebenführung abgezogen werden.
In Vence steht ein letztes Mal Pizzaessen an. Lächerliche 130 Kilometer fehlen noch bis zum Finale. Zum Col de Vence hinauf fahren zwei Heißsporne Rennen mit ihren frisierten Kisten. Damit sollte dann nach dem 21.12. ebenfalls Schluss sein, falls sie sich nicht schon vorher den Hals brechen.
Auf der Rückseite des Col de Vence herrscht Ruhe. Was gäbe es in diesem Moment Schöneres als ein kleines Verdauungsschläfchen in der Abenddämmerung? Wir legen uns für eine halbe Stunde auf den warmen Stein einer Bushaltestelle an einer einsamen Kreuzung. Die letzte Nacht: ein endloses Auf und Ab. Uns fehlen noch etliche Höhenmeter, die wir hier auf 1000 Meter über dem Meer in mühevoller Kleinarbeit sammeln. Sternenhimmel, Halbmond, Kälte. Wie lange werden wir noch über dem Lenker kauern, während die Beine weiterhin diesem inneren Impuls gehorchen? Wir stoßen wieder zu den Italienern vor, ehe wir uns weitere Ruheminuten zwischen Müllcontainern verordnen. Wir erreichen Comps-sur-Artuby, die letze Kontrolle, 60 Kilometer vor dem Ende. Der Ort ist ausgestorben, wir machen Beweisfotos von uns vor dem Ortschild. Mein Verstand ist klar und meine Beine noch immer fähig, die geforderte Leistung zu bringen. Mein bayerischer Partner, mit dem ich die letzten 800 Kilometer Seite an Seite gefahren bin, kündigt 50 Kilometer vor dem Ziel eine weitere Schlafpause an. Nein, nein, ich will jetzt durchhalten, die letzten 25 Kilometer gehen nur noch talwärts. Ich lasse ihn zurück, eile mit einem anderen namhaften Randonneur aus der Berliner Szene weiter. Nach weiteren zehn Kilometer ist auch bei mir das Feuer abgebrannt. Schluss, aus, vorbei. Ich lege mich abseits der Straße in ein Kiefernwäldchen, hoffe, dass mich die Kälte gleich wieder wachrüttelt.
Ich weiß nicht, wie viele Minuten ich gedöst habe, fühle mich aber nun imstande, mein Bonusprogramm abzuschließen. Unterwegs lese ich den Berliner Kollegen wieder auf. Auch er musste noch einmal vom Rad steigen. Ampus, Tourtour, Villecroze, Salerne: im Licht der gelben Straßenlaternen mühen wir uns durch die letzten Ortschaften dieser Tour. Die sehnsüchtig erwartete Talfahrt bis hinein nach Carcès. Sternenhimmel. Der erste Schimmer des neuen Tages.
Meine Punkte habe ich für dieses Mal zusammen. Meinetwegen können die Häuptlinge mit dem Weltuntergang also loslegen, wenn's denn sein muss. Ich werde dann die Chance nutzen, endlich mal richtig auszuschlafen. Sollte mit der Punktewertung etwas schief laufen, so habe immerhin drei grandiose Tag im Süden verlebt. Wenn sich aber die gesamte Prognose als falsch erweisen sollte, werde ich ab dem 22. Dezember wieder dem nächsten Mille du Sud entgegenfiebern.
Strecke: |
1029 km |
Höhendifferenz: |
14580 m |
Fahrzeit: |
50:15 |
Schnitt: |
20,5 km/h |
Gesamtzeit |
69:00 h |