Osterdorf, 10. August 2009, 10.00 Uhr
In Osterdorf ist Feiertag. Nach dem Ortsschild heißt ein breites Banner die Fremden willkommen. Die Fremden: das sind die Radfahrer aus allen Ecken Europas und von Übersee, die den Ruf der Familie Weimann zur "Großen Bayern-Rundfahrt" vernommen haben. Fähnchen zieren den Eingang des Gemeindesaals, blitzende Chromteile der über achzig Räder tragen ihren Teil zur Feiertagsstimmung bei. Auch morgens treffen noch Teilnehmer ein, das eine oder andere vertraute Gesicht kommt zu denjenigen hinzu, mit denen man bereits am Vorabend über die Biergläser hinweg Bekanntschaft geschlossen hat. Alle zusammen werden wir uns in Kürze auf diese verrückte Reise begeben.
Das üppige Frühstück wird umrahmt von einem Kommen und Gehen. Ruhig wird es erst, als am Eingang die Landeshymnen der jeweiligen Teilnehmer gespielt werden - live mit Saxofon. Ob ich will oder nicht, diese Melodien aus fernen Ländern mit ihrem Pathos rühren mich an. Ich gehe mir einen letzten Tee holen. Im großen Saal herrscht fast gähnende Leere, mit dem Rücken zu mir sitzt noch ein Einzelner, in Gedanken versunken. Es würde mich nicht wundern, wenn er ein letztes Gebet nach oben schickt. Durch die großen Fenster heftet sich mein Blick auf den milchig-grauen Morgenhimmel. Eine reiche Ausbeute an Trophäen und Trikots von zahllosen Langstrecken hängt an der Wand und ich kann mir nicht helfen: mit einem Mal überkommt mich eine ungeheure Melancholie. Eine Melancholie, wie man sie kennt, wenn unvermittelt irgendein Lied aus längst vergangenen Tagen die unerfüllten Träume und Sehnsüchte der Jugend im Gedächtnis aufblitzen lässt. Was um alles in der Welt führt mich hierher? Mich, ein Mittvierziger, dem vor fünfzehn Jahren keiner vorhergesagt hätte, dass er nun hier sitzen würde, in Radkluft, und mit einem Becher Tee in der Hand in die Wolken starrt. Ich sinniere über die eigenartigen Wendungen meines Lebens. Wieviel Zeit, wieviel Energie habe ich nicht in den letzten Monaten diesen 1200 Kilometern gewidmet, die nun vor mir liegen. Merkwürdig, wie sehr mir das Ganze an die Nieren geht. Ich stehe auf. Noch ein Gang zur Toilette, dann stakse ich in meinen Radschuhen wieder zurück ins Freie, hinein in die aufgekratzte Stimmung vor der Abfahrt.
Es folgt die kurze Ansprache von Karl Weimann, der uns seine guten Wünsche mit auf den Weg gibt. Mit dem Zehn-Uhr-Schlag setzen sich die Räder in Bewegung und ich jage dem hinterher, was einem in meinem Alter noch an Träumen geblieben ist: der Magie der Langstrecke.
Der Stoff, aus dem die Träume sind: Asphalt, zuerst trocken, eine Stunde später nass. Die Räder der anderen vor mir spiegeln sich darin, Gischt spritzt hoch - fast wie ein Strandurlaub. Der Regen ist warm und nur von kurzer Dauer und dämpft die freudige Erwartung in der Gruppe um mich herum keineswegs. Der Weg führt uns 20 Kilometer Richtung Westen, dann zielstrebig nach Süden, der Seitenwind macht das Vorankommen mühevoll, aber unser Schnitt pendelt sich bei knapp 30 Stundenkilometern ein. Wir sind schnell und ungeduldig. Nach weniger als drei Stunden ist die erste Kontrolle in Wertingen erreicht.
Fürs Erste hat sich der Regen verabschiedet. Der Himmel reißt auf, ein Augusthimmel, mit Wolken besetzt, die der Westwind vor sich hertreibt. Wenn er so bleibt, wird er uns heute abend ebenso vor sich hertreiben. Wir nähern uns dem Allgäu, der Kulisse meiner Jugendzeit. Die Straßen werden kleiner, mehr und mehr Bauernhöfe säumen den Weg. Kurze Pause in Ottobeuren, deren Barockbasilika uns schon bei der Einfahrt begrüßt. Die Einwohner sind fromm und rechtschaffen. Deswegen wird nicht geduldet, wenn man unter dem Wasserhahn neben dem Eingang des Supermarkts seine Brille putzt: das Wasser ist zum Blumengießen da, und nicht zum "Rumdreckeln", belehrt uns im Nu eine Angestellte. Jetzt wissen wir das also auch. Reisen bildet. Ich korrigiere meine Sattelposition um zwei Millimeter, und während ich mir ein Laugengebäck einverleibe, dehne ich die heißgelaufene Muskulatur. Mein Knie ziept etwas, nichts Beunruhigendes. Die Kollegen drängen zum Aufbruch, wir lassen die Stadt hinter uns. Über dem abendlichen Kempten, das bald in einer Talsenke vor uns auftaucht, stauen sich dicke Gewitterwolken.
Wir bleiben nicht verschont, in Görisried erwischt es uns. Blitze zucken über die bayerischen Fluren und zu fünft finden wir Zuflucht in einer Schreinerei am Ortsausgang. Der Chef lädt uns in seine Werkstatt und seine Frau macht uns sogar Tee. Natürlich sorgen wir mit unserem Husarenritt für ein gewisses Aufsehen und bekommen respektvolle Anerkennung. Die innere Stimme mahnt mich: noch bist du's nicht gefahren...
Es geht ein höllisch tiefes Tal hinunter und genauso steil auf der anderen Seite hoch. Allgäu vom Feinsten. Meine Form ist intakt, und als bei Kilometer 273 die dritte Kontrollstelle in Roßhaupten auftaucht, ist mir nicht allzu sehr nach einer langen Pause, allenfalls um mein Knie etwas zu schonen, das sich noch immer bemerkbar macht. Im Gasthaus "Zur Post" werden wir bei der Ankunft mit Applaus bedacht. Bei soviel Aufmerksamkeit will man den netten Bedienungen nicht sofort wieder den Rücken zukehren. Wir bleiben für einen Teller Pasta.
Unsere Gruppe ist stark und im Verbund glaubt man sich unverwundbar. Wieder zurück auf der Straße jagen wir in die erste Nacht hinein: das eigentliche Abenteuer beginnt. Nach Ilgen kommt Irritation auf: wo vor einer Woche noch eine Brücke nach Rudersau vorhanden sein musste, gähnt zwischen Absperrungen ein tiefes Bachbett. Einer von uns macht in der Dunkelheit zwei glitschige Balken aus, die etwas abseits darübergelegt sind. Einer nach dem anderen schultert sein Rad und balanciert auf seinen glatten Radschuhen drüber. Ich ziehe immerhin die Schuhe aus. Keiner stürzt in den Abgrund: wir sind tatsächlich unverwundbar. Der Triumph des Willens.
Der Wille hat seine Grenzen. Alles Verdrängen hilft nichts: Nach und nach hat sich das Ziepen in meinem Knie in eine durchaus schmerzhafte Angelegenheit verwandelt. Ich ziehe die Reißleine: das bisherige Tempo kann ich nicht mehr mitgehen. Ohne mich rollen die Gefährten weiter - ein schwerer Moment. Alleine stehe ich auf dieser Baustelle irgendwo im Niemandsland, und die Gewissheit des Ankommens zerrinnt mir zwischen den Fingern. Sofort geht es wieder ordentlich bergan, und erst jetzt, herausgerissen aus dem gemeinsamen Rausch der Geschwindigkeit, spüre ich das wahre Ausmaß der Schmerzen. Ich muss meinem Knie Ruhe verschaffen und zwar bald, darauf hoffend, dass nach drei oder vier Stunden Schlaf die Reizung abgeklungen ist.
Die Kirche hatte immer ein Herz für die Armen und Kranken, und so weiß ich sehr zu schätzen, als kurz vor Mitternacht in einer Abfahrt am Straßenrand eine Grotte mit einer Muttergottes im Kerzenschein auftaucht, deren Betgestühl gerade genügend Platz bietet, um dazwischen mein Krankenlager aufzuschlagen. Die Magie der Langstrecke: ungeachtet aller Gepflogenheiten dort schlafen, wo das Haupt eine Ruhestätte findet. Immerhin fege ich mit einem Besen, der in der Ecke steht, den Boden, ehe ich die Teppichreste, die auf den Bänken liegen, auf dem nackten Beton ausbreite, um mich in meinem Biwaksack darauf auszustrecken. Es würde kühl werden, aber ich hatte damit gerechnet und zur Vorsicht eine dünne Fleecedecke eingepackt. Das Lager ist hart, doch ich fühle mich wohl, auch wenn ich kaum Schlaf finde. Der Wecker ist auf 3.45 Uhr gestellt. Die Muttergottes wird beim Chef ein gutes Wort für mich einlegen.
Nichts hat sie getan, die Muttergottes. Nach nicht einmal einer halben Stunde auf dem Rad geht die Chose wieder von vorn los: von Kilometer zu Kilometer wird das Treten beschwerlicher, jeder Hügel zur Herausforderung. Ich passiere wortlos Mitkämpfer: ausgestreckt im Schutz einer Geldautomatenhalle oder über den Lenker gebeugt beim Kartenstudium oder Essen. Der Tag bricht langsam an: was für ein intensiver Augenblick! Ich ahne, dass es die einzige Morgendämmerung sein wird, die ich auf dieser Tour erleben darf. Bis Bad Tölz bei Kilometer 400 will ich durchhalten - vielleicht geschieht ja noch ein Wunder.
Unwirkliche Stille herrscht in Kochel am See. Der Ort ist zu dieser frühen Stunde zauberhaft, tagsüber wird sein Charme dem Touristentreiben zum Opfer fallen. Der Anstieg zum Kesselberg: immer wieder halte ich an, um für einen kurzen Moment mein Knie zu entlasten. Ich versuche es einbeinig. Das Wunder bleibt aus. Am Walchensee schließlich wird es zur Gewissheit, dass die Sache für mich gelaufen ist: auf der Ergebnisliste wird am Ende neben meinem Namen ein "DNF" stehen: did not finish. Ich setze mich auf eine Bank am See, blicke in den Morgenhimmel. Die Sonne ist eben aufgegangen. Ich spüre nichts: keine Trauer, keine Freude, nichts. Vor mir der See in seiner makellosen Schönheit.
In Lenggries, zehn Kilometer vor Bad Tölz, steige ich um 9.21 Uhr in den Zug, in München bekomme ich Heidi Weimann ans Telefon, um ihr meine Aufgabe mitzuteilen. Ich versuche, mich zusammenzureißen, aber jetzt bricht's aus mir heraus und ich wundere mich, wie nah dieser zähe Hund, der sich das eine oder andere Mal schon durchgebissen hat, am Wasser gebaut ist. Aus und vorbei. Ein Traum ist geplatzt, nicht der erste.
Mittags bin ich zurück in Osterdorf. Heidi findet tröstende Worte, macht Kaffee, serviert Kuchen. Zwei Stunden später sitze ich wieder im Zug. Wo immer ich meinen Fuß in den nächsten drei Tagen hinsetzen werde, fühle ich mich fehl am Platz: mein wirklicher Platz ist im Sattel, irgendwo auf dem Weg rund um Bayern.
Den Streckenplan werde ich sorgsam hüten. Vielleicht kommt irgendwann der Tag, wo ich ihn hervorkrame, mein Bündel schnüre und mich ganz allein auf den langen, beschwerlichen Weg der Großen Bayern-Rundfahrt mache. Die Magie der Langstrecke hat keinen Schaden genommen, die Möglichkeit des Scheiterns gehört dazu.
Strecke |
399 km |
Höhendifferenz |
2840 m |
Fahrzeit |
15:30 h |
Schnitt |
25,7 km/h |
Gesamtzeit |
23:00 h |