Sonntag, 21. August, 16.40 h
| Strecke |
Guyancourt/St.-Quentin-en-Yvelines, 0 Kilometer, 16.40 Uhr: Es scheint wie das letzte Aufbäumen des Sommers. Die rund 1200 Fahrer im Stadion des Gymnase des Droits de l'Homme werden ein letztes Mal in der Spätsommerhitze ausgehärtet, ehe es auf die Strecke geht. Stunde um Stunde harren die Vordersten in der prallen Sonne aus. Wer hier keine Helfer im Startbereich hat, startet entweder mit leeren Trinkflaschen oder in dehydriertem Zustand. Das Privileg, in der ersten Gruppe zu starten, hat seinen Preis. In meiner Abteilung, ganz hinten, sehe ich andere, die sich die Wartezeit im Schatten vertreiben und erst kurz vor dem Start nach ihren Rädern greifen. Die vielen Absperrungen im Stadion des Gymnase des Droits de l'Homme verhindern, dass ich mich zu diesen taktisch überlegenen Strategen geselle. Auf meiner Seite des Ovals gibt es keine Handbreit Schatten. Wir alle sehnen den Start herbei.
Rund 5000 Radfahrer aus aller Welt haben sich für diese riesige Party der Langstrecke versammelt. Seit gestern wird Guyancourt von jener aufgekratzten Stimmung beherrscht, die sich in plötzlichem Lachen Luft macht, aber auch in einer Nachdenklichkeit, die vielen Gesichtern abzulesen ist. Jeder glaubt zu wissen, was auf ihn zukommt: wie schnell kann sich die Feier in eine nicht enden wollende Leidensgeschichte verwandeln!
Als sich um 16.10 Uhr die Ersten auf den 1200 Kilometer langen Weg zum Atlantik aufmachen, geht ein Ruck durch die Verbleibenden. Wir verlassen das Stadion, der Startbogen kommt in Sicht. Habe ich alles überprüft, nichts vergessen? Die eine meiner Trinkflaschen ist schon so gut wie leer. Egal. Das Verlangen, endlich zu starten, nimmt Überhand. Der Startbogen ist das Tor zu dieser wilden, verrückten Welt der Randonneure, die ich liebe und die ich fürchte. Hier gelten andere Gesetze. Wir sind hier, um unser Bestes zu geben, um durchzuhalten, jeder für sich, jeder in seinem Rhythmus. Die Leitlinie ist die Grenze zwischen dem, was der Körper erträgt und dem, dessen er sich verweigert.
3800 Starter werden uns in den nächsten Stunden nachfolgen, bis morgen früh um fünf Uhr, wenn die Letzen im fahlen Morgenlicht durch diesen weißen Bogen rollen werden.
Zwanzig, neunzehn, achtzehn... als wir im Sekundentakt angezählt werden, weicht die Anspannung. Es ist, als würde sich der gleißende Ozean vor mir ausbreiten, und ich mit weit ausladenden Segeln endlich, endlich in See stechen, westwärts, wie die Eroberer in alten Zeiten.
Applaus hebt an, der wie Gischt am Bug des Bootes aufspritzt, wir tauchen ein in diese flirrende Luft der Landstraße, die kühlend an den verschwitzten Körperpartien vorüberstreicht. Dieser Moment verfolgt mich seit Wochen.
Villaine-la-Juhel, 221 Kilometer, 0.32 Uhr: Ich bin entschlossen, PBP in weniger als sechzig Stunden zu beenden. Das macht 3600 Minuten; jede einzelne kann im Lauf der nächsten Tage zu Stunden gerinnen.
Der Empfang in Villaine, der ersten Kontrolle, ist großartig. Hunderte von Zuschauern stehen in den Straßen der Kleinstadt und lassen es sich nicht nehmen, uns begeistert anzufeuern. Ein gutes Zehntel der Strecke liegt hinter uns. Zurück bleiben die Bilder von waghalsigen Überholmanövern, mit denen manche ihre Plätze im Feld gutmachen; auf einer Verkehrsinsel liegt leblos ausgestreckt ein Fahrer. Leute ringsum, die sich offensichtlich um ihn kümmern - wir jagen scheinbar ungerührt vorbei. Es ist absurd, aber wer hier plötzlich bremst, riskiert die nächsten Unfallopfer. Wir halten den Puls hoch.
Zurück bleiben Bilder von hilfsbereiten Zuschauern am Wegesrand, die mit flinker Geste unsere Trinkflaschen füllen. Bonne route! rufen sie uns nach, während wir unsere Räder wieder eilig zur Straße hin ausrichten. Auf dem Weg hierher haben wir Mortagne-au-Perche hinter uns gelassen - auf der Hinfahrt eine reine Verpflegungsstelle -, wo ich mich um eine vorläufige Koalition bemühe. Ich suche mir eine Handvoll entschlossener Leute aus dem Feld zusammen, die sich ebenfalls die Sechzig-Stundenmarke zum Ziel gesetzt haben. Mit drei Australiern mache ich mich bei Einbruch der Dunkelheit wieder auf den Weg, Dirk, ein Hamburger, verpasst uns, holt uns auf der Strecke wieder ein und gemeinsam rollen wir nun durch das Menschenspalier in Villaine.
Noch spüre ich keine Spur von Müdigkeit. Ich stürze eine Schale Kaffee hinunter und esse den Rest meiner Brotvorräte. Ein Sog liegt über Villaine, der mich weiter zieht in die Nacht. Gerade, dass ich mir noch die Zeit nehme, das empfindsamste Körperteil zu pflegen: mein Hintern. Mit ihm möchte ich es mir nicht verscherzen. Zu zweit verlassen wir die Kontrolle, aber es ist immer nur eine Frage von Minuten, bis man umgeben ist von Fahrern aller Couleur. Nicht alle sind gewillt, sich aktiv fürs Vorankommen einzusetzen. Viele legen es darauf an, sich im Schwarm mitziehen zu lassen ohne auch nur einen Tritt an der Spitze zu machen. So bleibt der Kreis überschaubar, in dem wir vorne die Führungsarbeit leisten. Einer der Unermüdlichen ist Dirk, der Hamburger.
Fougères, 310 Kilometer, 4.06 Uhr: Nach zwölf Stunden im Sattel ist das Ende der ersten Nacht in Reichweite. Das ist die Zeit, wo man im normalen Leben nach einem ausgedehnten Abend mit Freunden endgültig die Segel streicht oder schlafttrunken vom ersten Vogelgezwitscher geweckt wird. Bei Paris-Brest gibt es keinen Normalzustand. Tage und Nächte sind verwoben zu einem einzigen Strom, auf dem wir lautlos dahingleiten. Wir lichten die Anker, noch ehe sie Grund erfasst haben. Das Verschnaufen hat seinen eigenen eng getakteten Rhythmus.
Immer wieder treffe ich auf bekannte Gesichter, sei es, dass sie plötzlich im Feld auftauchen, sei es, dass sie kurz vor oder nach mir in die Kontrolle einfahren. Die Kilometer haben ihre Spuren hinterlassen, die Augen liegen tiefer in den Höhlen. Die drei Australier habe ich zu meinem Bedauern verloren. Wir mühen uns von Welle zu Welle. Vor jeder einzelnen drohen bisherige Gefährten zurückzubleiben, hinter jeder von ihnen können neue dazustoßen - ein wirres Spiel mit einer einzigen Ausrichtung: Brest.
Tinteniac, 364 Kilometer, 6.26 Uhr: Der Sommer ist vorüber; graue Wolkenbänder durchziehen den Morgenhimmel, die Temperaturen sind spürbar gefallen. PBP für sich genommen ist keine Schönheit. Die Strecken sind unspektakulär, oft mit sehr rauem Asphalt versehen. Die Motivation speist sich nicht aus landschaftlichen Schönheiten, sondern allein aus der Historie: dem Mythos der Härte, der Verwegenheit. Nicht weniger als wir sind die zahllosen bénévoles, die Freiwilligen, die die Kontrollen rund um die Uhr betreuen, Teil des Mythos. Sie jedoch tauchen in keiner Ergebnisliste auf. Ebensowenig wie die vielen Zuschauer am Straßenrand, die mit ihren Anfeuerungssrufen zeigen, dass sie an unserem Leiden Anteil nehmen. Leiden? Bis hierher war es ein betörendes Rauschen durch die Nacht. Fast ist mir, als wäre mir die Erdung, die der Schmerz verleiht, abhanden gekommen. Mit aufgeblähten Segeln tanze ich von Woge zu Woge.
Loudéac, 449 Kilometer, 10.08 Uhr: Wie seltsam, dass die Geschäfte in den Ortschaften geöffnet haben! In unseren Köpfen herrscht Ausnahmezustand, aber außerhalb nimmt das Leben seinen alltäglichen Gang. Die Welten prallen unversehens aufeinander. Hier das Weiter, Weiter, das wie ein Sturm in den Gehirnen der Fahrer wütet; dort die morgendlichen Einkäufer, die mit ihrem Baguette unter dem Arm bei unserem Vorüberziehen kurz innehalten, und ein bon courage in unsere Richtung rufen.
Carhaix-Plouger, 525 Kilometer, 13.41 Uhr:
Die letzte Kontrolle vor dem Wendepunkt. Ich pumpe mich mit Cola voll, erstaunt, wie wenig mir die vergangene Nacht zu schaffen macht. Es sind stets die gleichen Rituale an den Kontrollen: hat der Transponder über der Matte das Piepsen ausgelöst, begibt man sich zu den anwesenden Kontrolleuren, die den Stempel in das Brevetheft drücken. Eine schöne Zäsur und meist Anlass für einen kleinen Wortwechsel. Pas trop fatigué? - ob ich nicht zu müde sei? Non, je me sens très bien! Merci à vous! Ein Dank an die Helfer und weiter geht's zur Theke, wo ich meist unentschlossen zwischen Kaffee, Tee oder Cola schwanke. Milchkaffee hat den Vorteil, dass das Baguette, das ich mir nur mit Butter bestreichen lasse, darin eingetunkt und in großen Bissen verzehrt werden kann. Das spart Zeit. Ab in die Toilette: Blase entleeren, Flaschen füllen, Katzenwäsche, Gesäß eincremen. Diesmal putze ich mir sogar die Zähne. Der Belag auf meinem Gebiss wird mir zur Plage. Carhaix wäre ein geeigneter Ort, um einen Werbespot fürs Zähneputzen zu drehen.
Brest, 618 Kilometer, 17.32 Uhr: In weniger als fünfundzwanzig Stunden haben wir die ersten 627 Kilometer hinter uns gelassen. Das Hafenbecken zu unseren Füßen liegt wie erstarrt; das Meer zeigt sich grau und wellenlos. Ich stelle mir eine Ankunft am Ende der Landzunge vor oder an der weiter südlich gelegenen Pointe du Raz, dem westlichsten Punkt der Bretagne, dem Finisterre - Ende der Welt. Ich stelle mir eine Transpondermatte und ein Dutzend Kontrolleure an Tischen und Bänken vor, die in den sturmumtosten Klippen ihren Stempel parat halten für jeden, der es in diese Einöde schafft. Kein Versorgungsfahrzeug, kein Verpflegungsstand. Der Randonneur allein im Angesicht des unendlichen Ozeans, im Angesicht der Wellen, die von Westen her gegen das schroffe Gestein schlagen. Hier ankommen und die salzige Luft des Atlantiks einatmen: das wäre ein Ziel, für das es sich lohnen würde, eine Nacht auf dem Rad durchzuhalten, dem Wind und dem Asphalt zu trotzen. Ein würdiger Höhepunkt der Tour.
Stattdessen: Industriearchitektur am Hafen, Staus, Enge. Kaum einer nimmt Notiz von uns. War es fast die Regel, dass uns auf dem Weg hierher respektvoll die Vorfahrt eingeräumt wurde, laufen wir hier fast schon Gefahr überfahren zu werden, wenn wir im Verband in einen Kreisverkehr einscheren. Im Ziel dicht gedrängt die Versorgungsfahrzeuge der unterstützten Fahrer. Die Menschen an der Kontrolle sind wie immer ausnehmend freundlich. Sie retten die Ehre Brests.
Mein compagnon de route, Dirk aus Hamburg, und ich sind zu einem soliden Gespann zusammengewachsen. Es bedarf nur weniger Worte für die gemeinsame Entscheidung, uns hier wiederum auf eine kurze Rast zu beschränken. Der Wind, der jenseits der Bucht die Wellen gegen den Fels schleudert, wird uns gnädig sein und uns zurück zum Ausgangspunkt eskortieren. Auf den Pfeilen, die uns ab hier den Weg weisen, steht nicht mehr Brest, sondern Paris.
Strecke (gemessen): |
627 km |
Höhendifferenz: |
4950m |
Fahrzeit: |
21:26 h |
Schnitt: |
29,2 km/h |
Gesamtzeit (Hinweg) |
24:52 h |