Donnerstag, 27. März 2014
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Mit dem Aufkommen der Morgendämmerung setzt der Schwerlastverkehr ein. Es ist sechs Uhr, als wir uns wieder schütteln, um das heutige Tageswerk in Angriff zu nehmen. Die Nacht war sternenklar und frostig und es verlangt mentale Stärke, sich des warmen Schlafsacks zu entledigen. Das Schöne allerdings ist, dass wir nach dem Verpacken unserer Habseligkeiten von unserer Bushaltestelle aus kaum einen Kilometer zu fahren haben, um eine offene Bäckerei anzutreffen. Bed & Breakfast: die Servicelandschaft im französisch-schweizerischen Grenzgebiet kann sich sehen lassen.
Ein Radwegbiotop, wie es sich nun entlang des Rhônes zieht, sieht unsereiner mit einem gewissen Vorbehalt, was weniger daran liegt, dass sich die Wege oft verwinkelt durch die Landschaft ziehen. Vielmehr liegt es daran, dass sich der Radreisende unserer Gattung mit der Straße verwurzelt und verwachsen fühlt. Sie ist sein Element und all die renitenten Chauffeure, die ihm dies streitig machen, straft er mit Liebesentzug und es ist ihm egal, dass sie schon bald nichts mehr zu lachen haben werden: Mit dem fortschreitenden Abschmelzen der Polkappen werden sie sich - obwohl sie mit Fahrzeugen unterwegs sind - von der politischen Jugend den Vorwurf des Mitläufertums gefallen lassen müssen und auch der unpolitische Zweig der Jugend wird es sich auf Kurz oder Lang auf den Straßen bequem machen und in Dreierreihe nebeneinander pedalieren und jedem hübschen Paar Beine, das ihnen entgegenkommt, auf Facebook eine Freundschaftsanfrage hinterherschicken. Wer dann noch Auto fährt, ist selbst schuld. Wir Heutigen ziehen es zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings vor, um die Route Départementale zwischen Belley und Culoz einen großen Bogen zu machen wie um einen Aussätzigen.
Der Rhône-Radweg ist entgegen aller Erwartungen ganz praktikabel und so ziehen zwei entspannte Radler linksseitig den Strom lang und erfreuen sich an der Morgenstund im Wiesengrund, während sich jenseits des Flusses der motorisierte Verkehr durch die Landschaften frisst. Eine hermetisch abgeriegelte Baustelle am Uferweg überwinden wir dardurch, dass wir uns über das Einlasstor für die Bauarbeiter Zutritt verschaffen, die uns sogleich freundlich durchwinken. Ein rundum sonniger Morgen.
Die Route, die uns das Navi weist, führt uns auf kleinsten Fahrstraßen an den Verkehrsströmen der Region vorbei. Man wünscht sich nur etwas mehr Zeit, um das heftige Auf und Ab, das einsetzt, sobald wir den Flussradweg verlassen haben, mit mehr Muse zu würdigen. Die Vernunft gebietet es - angesichts unserer Pläne, heute noch den Fuß des Mont Ventoux zu erreichen - in Les Abrets wieder auf die Hauptstraße einzuschwenken. Im Tal der Bourbre wird es schon bald ruhiger und ein vertrauter Zauber überzieht die Straßen, die uns voranbringen. Wäre mein Geruchssinn nicht so desolat, wäre es wohl ein Leichtes, den Frühling in seiner ganzen Bandbreite zu riechen. Es bleiben die zarten Farben fürs Auge und die warme Frühlingsluft, die mir um die Ohren rauscht. Und während ich mich vom Col de Toutes Aures nach St. Marcellin hinuntergleiten lasse, beschleicht mich leises Mitleid mit denen, die diese Welt nur durch die Zweidimensionalität einer Windschutzscheibe oder eines Flachbildschirms erfahren - obwohl ich weiß, dass sie es natürlich nicht besser verdient haben.
Aufgelockerte Bewölkung, die uns seit dem Vormittag begleitet, macht uns die Entscheidung für die Route übers Vercors leicht. Seine pittoresken Straßen inmitten der felsigen Bergflanken üben auf den Radfahrer eine magnetische Anziehungskraft aus. Im Hintergrund thronen die schneebedeckten Gipfel der Zweitausender, die das Vercors nach Osten hin abschließen. Auf dem Dorfplatz in Léoncel, mittem im Vercors, kurvt ein kleines Mädchen auf ihrem rosa Fahrrad unablässig auf und ab und beäugt uns mit kindlicher Neugier. Wie alle echten Radfahrer wirkt sie außerordentlich zufrieden. Man wünscht der Gesinnungsgenossin in Gedanken alles Gute und zieht seines Weges, entlang des zauberhaften Hochtals und hinunter an der im Abendlicht aufleuchtenden Südseite des Gebirgszuges. Unser Ziel ist ein gutes Stück nähergerückt.
Der lang erwartete Pizza-Stopp in Aouste wird uns etwas verleidet durch das aufdringliche Geplapper eines Einheimischen, der sich, umgeben von ein paar einfältigen Schönheiten an seinem Tisch, auf weltmännische Weise zu profilieren versucht und nicht aufhören will, uns irgendwelche Dummheiten zu fragen. Ein hoffnungsloser Fall. Ich hätte Preisnachlass fordern sollen.
Im Schutz der Dunkelheit geht es auf den letzten Abschnitt des heutigen Tages: bergiges Gelände und Ortschaften, denen bereits jenes Flair anhaftet, das nur unter einem gewissen Maß an Sonneneinstrahlung zu gedeihen scheint. Nach Bourdeaux, wo wir uns, trotz einer noch offenen Kneipe mit einem Riegel und einem Schluck aus der Trinkflasche zufriedengeben, bleibt ein letzter, langwieriger Anstieg hoch zum Col de la Sausse zu überwinden. Jeder Tritt nach oben ist wie ein mühsames Schwanken hin zum Tor, das uns vom Süden trennt. Wie oft bin ich schon dort oben gestanden, habe mir im Regen die Jacke zugezogen oder in die Sonne geblinzelt, voller Vorfreude die Nebelfelder unter mir zu durchdringen versucht oder mir wie heute Abend ein letztes Mal die langen Handschuhe übergestreift. Der Sternenhimmel über uns dehnt sich bis weit über die Mittelmeerküsten, während wir in dieser kühlen Märznacht wie versprengte Herdentiere auf der Passhöhe stehen und den Moment der Einsamkeit genießen. Wir wissen: wir haben es geschafft. Wir ziehen die Jacken bis unters Kinn zu, greifen wieder nach unseren Rädern und stoßen sie auf, diese dunkle Pforte, die uns in diesem Moment den Süden eröffnet.
Strecke: |
284 km |
Zeit: |
13:04 h |
Schnitt: |
21,7 km/h |
Höhendifferenz: |
2850 m |