Samstag, 15.06.2013
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Wir haben es heute Morgen nicht eilig. Während das Kaffeewasser mit dem letzten Gas aus der Kartusche erst langsam zu köcheln beginnt, beobachte ich Ameisen, die sich um einen Brotkrumen bemühen. Die großen Ameisen zerren diesen für ihre Verhältnisse gigantischen Brocken durchs trockene Gras, während ein zweites Volk kleiner Ameisen winzige Stücke herausreißt und eifrig in ihre Gänge schleppt. Ein hektisches, scheinbar wirres Treiben. Vor Jahren habe ich einmal gelesen, dass ein Ameisenvolk so etwas wie ein Nervensystem darstelle - im Einzelnen ein heilloses Drunter und Drüber; aber alles Chaos hat am Ende dann doch wieder System. Eine merkwürdige Vorstellung. Ich genieße die Zeit der Stille in der Morgensonne.
Es wird halb elf Uhr, bis alles in unseren Packtaschen verstaut ist. Wir fahren ein kleines Stück Richtung Ponte Leccia zurück, um dann in westlicher Richtung in ein kleines Seitental einzubiegen. Die Anstiege lassen nicht auf sich warten, ebenso wenig die Hitze. Schweigend mühen wir uns bergan, zwischen den Wäldern aus niedrigen Bäumen und den mit Steinmauern umsäumten Freiflächen. Das Land ist karg - überall liegt weißes Geröll zwischen den grasbewachsenen Flächen. Es muss eine Sisyphosarbeit sein, hier auch nur einen Hektar Land urbar zu machen, zumal bei diesen Temperaturen; Stein um Stein wegzutragen und aufzuschichten, nur um die nächsten Steine freizulegen. Die Mauern sehen aus, als wären sie bereits vor Generationen errichtet. Vielleicht wird hier im Frühjahr und im Spätherbst etwas gearbeitet. Im Sommer ist es nicht möglich. Da setzt man sich in den Schatten, überlässt die Welt ihrem Streben nach allgemeiner Auflösung und wartet, bis die Hitze vorübergeht. Es macht keinen Sinn, irgendetwas zu tun. Die Kontinentalfranzosen verachten die Korsen bisweilen wegen ihrem Hang zur Untätigkeit - ich hingegen kann sie gut verstehen. In dieser Hinsicht wäre ich gern Korse.
Wir nähern uns Popolasca, ein Ort unterhalb gezackter Bergspitzen, den Aiguilles de Popolasca. Von Ferne dringt ein seltsamer Singsang an unsere Ohren. Ein alter Mann auf einer Veranda, ganz offensichtlich verwirrt, singt mit seiner hohen Stimme ungeachtet unseres Vorüberziehens korsische Volksweisen. Wie viele Stunden wird er hier wohl täglich sitzen, umgeben von der Hitze und seinem Gesang? Wir bewegen uns in seiner Nähe so andächtig wie möglich.
Es wäre nett gewesen, in Pont de Castirla eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken. Das einzige Restaurant an der Wegkreuzung bietet jedoch nur ein komplettes Menü an - etwas anderes kommt nicht in Frage, da bleibt die Chefin trotz der leeren Terrasse unnachgiebig. Wir aber möchten heute Abend in Corte etwas Warmes essen - also ziehen wir mit knurrenden Mägen weiter, um im nächsten Ort, zwei Kilometer weiter, auf einer Bank das letzte Stück Brot und Kekse zu verzehren.
Die Straße nach Corte bleibt fast verkehrsfrei. Erst an der Stadtgrenze stoßen wir auf die N 193 - nach der Beschaulichkeit der winzigen Bergstraßen fast ein Kulturschock, obwohl Corte selbst keineswegs groß ist und nichts mit der Betriebsamkeit Bastias gemein hat. Wir fahren direkt zum Campingplatz und entledigen uns unseres Ballasts. Das Fenster der Rezeption schmücken Aufkleber, die 30 Jahre bewaffneten Kampf des FLNC, der korsischen Widerstandsbewegung gegen den französischen Zentralismus, feiern. Darauf abgebildet ist ein vermummter Kämpfer mit einem Gewehr in seinen Händen. Die Sympatien für den Widerstand scheinen sich quer durch alle Bevölkerungsschichten zu ziehen. Es ergab sich leider keine Gelegenheit, den Zeltplatzinhaber, eine eher intellektuelle Erscheinung, nach den Hintergründen der Aufkleber zu fragen. Vielleicht hat er in jüngeren Jahren ja selbst mit Knarren und Sprengstoff hantiert - eine antiquierte Vorstellung in der heutigen Zeit, wo alle Probleme scheinbar auf demokratischem Wege geregelt werden. Aber eben nur scheinbar und auch nur solange die Verlierer unserer Gesellschaften trotz aller geradezu obszöner Ungerechtigkeit die Klappe halten und brav ihre Kredite abstottern.
Wir streunen durch die Stadt; sie ist durchaus sehenswert mit ihrem Altstadtviertel und ihrer Zitadelle. Es gibt viele, viele Treppenstufen hoch- und runterzusteigen, was nach unserer heutigen bescheidenen Tagesetappe noch leidlich gut funktioniert. In einem der kleinen Läden mit korsischen Köstlichkeiten versorgen wir uns mit bernsteinfarbenem Aperitif und einem kleinen Tellerchen mit einheimischen Käse, den unsere Gastgeberin mit viel Mühe zusammenstellt. Vermutlich könnten wir es in Corte noch mühelos ein, zwei Tage länger aushalten. Wir begnügen uns aber mit einem Abendspaziergang in den Eingang der Restonica-Schlucht, die beeindruckend sein muss, wenn das beachtliche Verkehrsaufkommen tagsüber auf der schmalen Straße überhaupt solche Schlüsse zulässt. Nun aber, kurz vor Anbruch der Nacht, flanieren wir recht ungestört entlang des Flussverlaufs, ehe wir wieder unser Zelt aufsuchen. Auch hier sind wir zwischen der motorrädrigen Bourgoisie die einzigen Radtouristen, was wir etwas bedauern.
Strecke: |
32 km |
Zeit: |
2:29 h |
Schnitt: |
12,8 km/h |
Höhendifferenz: |
700 m |