Schattendasein im Land der Belchen

Superrandonnée Belchen Satt   Freiburg, 23. August, 4:30 Uhr


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Alles beginnt damit, dass man Samstag früh noch vor halb vier Uhr aufsteht, um gegen halb fünf am Freiburger Martinstor zu stehen, wo die Rundfahrt starten soll. Unter Insidern gilt sie als extrem. Andere Randgruppen wanken um diese Zeit von Diskothek zu Diskothek – irgendwie auch extrem. Oder die Taxifahrer, die übermüdet auf letzte Kundschaft lauern. Gegenüber stehen die Streifenwagen der Bereitschaftspolizisten, die hier gähnend ihren Dienst verrichten. Eine friedliche Koexistenz gesellschaftlicher Subsysteme. Die vier Typen in ihren krassen Leuchtwesten fallen nicht einmal dadurch auf, dass sie Fotos von der Turmuhr schießen, sich an ihren Rädern zu schaffen machen und von merkwürdigen Dingen reden. Alles verläuft reibungslos. Keine Übergriffe, keine zeitraubenden Beschimpfungen. Auch kein Zuspruch. Dann eben nicht. Unser Bündel ist geschnürt und in aller Stille machen wir uns auf den Weg. Und zwar zügig, denn, was unser Unterfangen, die Belchen satt, anbelangt, tickt die Uhr: für die zwölftausend Höhenmeter über sechshundert Kilometer stehen uns 54 Stunden zur Verfügung: pro Stunde 222,22 Höhenmeter und 11,11 Kilometer – wahrscheinlich man muss schon einmal auf der Strecke gewesen sein, um diese Eckdaten gebührend zu würdigen.

Zaghaft bricht die Dämmerung an, während wir zu viert auf der gewundenen Straße zum Schauinsland hochkurbeln, dem ersten Prüfstein der Superrandonnée. Zuspruch erhalten wir von den frühen Vögeln, die aufgeregt in den Morgen hinein twittern. auf dem Belchen

Nach der steilen Abfahrt vom Stohren sind wir nur noch zu dritt. Die dieser neuen  Gruppenkonstellation vorausgehende Szene wirkt auf den ersten Blick dramatisch: ein rot blinkendes Rad liegt auf dem Asphalt. Mit blutbefleckten Beinen steht der Kollege daneben und verflucht den Umstand, dass ihm der Schlauch geplatzt ist und er nach gerade mal zwanzig Kilometern die Mission abbrechen muss. Ehrenhafter wäre es natürlich gewesen, in einer der zahllosen Rampen dieser Tour vom Rad zu fallen.

Für uns drei Verbleibende geht es in den wortkargen Anstieg hoch zum Belchen, dem, wie es heißt, schönsten Berg des Schwarzwaldes - hier verlässt uns der nächste Mitfahrer in der Absicht, jeden Belchengipfel extra zu erklimmen, und sei es zu Fuß. Ein echter Extremist. Fortan zu zweit befahren wir den einsamen, rau asphaltierten Anstieg zum Tiergrüble inmitten eines menschenleeren Zauberwaldes; nehmen die windige Abfahrt nach Todtmoos. Sitzen da, den heißen Becher Milchkaffee von der Brottheke des Supermarkts in den klammen Händen. Außer der freundlichen Verkäuferin nimmt keiner Notiz von uns. Verständlich. Auch die Schwarzwälder sind eigen, was sich dem Reisenden schnell durch ihren außergewöhnlichen Dialekt erschließt. Der Rhein ist nur noch ein paar Hügel entfernt.

Lauffenburg am RheinSo friedlich das Schweizer Jura daherkommt: es kann mit seinem frischen Grün nicht darüber hinwegtäuschen, dass es genauso zu Extremen neigt, wie die Landfahrer, die sich der Belchen satt verschrieben haben. Die Anstiege und Abfahrten sind so steil, dass die Straßenbauarbeiter keine ängstlichen Naturen sein durften. Als Radfahrer verschwindet man zwischen den unfassbar steilen Hügeln. Ein keuchendes Nichts umgeben von den schroffen Launen der Natur.

Erst die Kassiererin im Supermarkt in Balstal verhilft uns wieder zu Existenz: auch als Nichts kommt man um gewisse gesellschaftliche Konventionen, besonders im finanziellen Bereich, nicht umhin.

auf dem Weg zum ChasseralWährend an meiner physischen Präsenz besonders in den Anstiegen keine Zweifel bestehen können, bleibt unsere soziale Existenz fraglich. Gerade die Schweizer Autofahrer scheinen radfahrende Mitmenschen als eigenständige Randgruppe kaum wahrzunehmen – oder sie sind von ihrem Naturell her distanzlos. Glücklicherweise sind die Abschnitte in den Tälern kurz und schon in der Auffahrt zum Chasseral ist wieder alles erfreulich anders.  Das Fahrzeugaufkommen ist mit zunehmender Schnappatmung zu vernachlässigen. Alles andere auch. Sah man eben noch in der Ferne das graue Band des Bieler Sees – der Chasseraldem ich aus unerfindlichen Gründen ein zartes Rosa andichte – löst sich gleich darauf alles im Nebel auf. Was bleibt, ist der Wind und die Schwerkraft als Nachweis unserer Existenz. Die Welt, die unsere schmalen Reifen für gewöhnlich in zwei Hälften schneiden, ist nichts als als ein dicker, grauer Kloß.

Erst kommt die Nacht. Hinter Saint-Imier huschen wir in mühseliger Kleinarbeit weiter auf den nächsten Pass, den Mont Soleil, wo sich über den skelettartig in den Himmel ragenden Windrädern regenschweres Gewölk staut. 

Dann kommt der Regen. In der Abfahrt hinunter nach La Goule hat er uns erwischt und diese schmale Spalte in der Erdkruste, in die sich der Doubs gefressen hat, scheint mir in dieser Nacht von Dämonen besiedelt. Wir fliehen unter das Vordach eines Kirchleins, hoffen auf ein Nachlassen des Getöses. Wir drücken die Klinke und, siehe da, uns wird Asyl gewährt und auf den kalten Steinplatten legen wir uns für zwei Stunden zur Ruhe, während draußen die Dämonen ihr schmutziges Geschäft verrichten. In solchen Momenten erfreut man sich an seinem Schattendasein – bis die schwierige Seite unseres Geschäfts wieder überhand nimmt: morgens um drei Uhr besteigen wir fröstelnd die Räder, um uns über dieses verfluchte Schlagloch übersäte Sträßchen aus der Doubsschlucht rauszuhebeln.

Frühstück in Isle-sur-le-DoubsIm nachlassenden Regen rollen wir in den Morgen hinein – endlose Straßen durch endlose Wälder. Lähmende Durststrecken. Ein letztes Mal kreuzen wir den Doubs im gleichnamigen Ort Isle-sur-le-Doubs. Im Café, wo wir ziemlich übernächtigt unser Frühstück einnehmen, vermeiden wir jede unnötige Aufmerksamkeit, obwohl es nach einer solchen Nacht viele Worte anzubringen gäbe. Wir sind froh, in der menschlichen Gesellschaft wieder Aufnahme gefunden zu haben und genießen unser stilles Glück. So ziehen wir also, ohne Spuren zu hinterlassen, weiter in die Vogesen. Unter zunehmend blauem Sommerhimmel deutet sich ganz vorsichtig ein Happy End an.

Auffahrt zum Ballon de ServanceBis dahin wird es allerdings dauern, die Vogesen sind keine Maulwurfshügel, über die man einbeinig drüberhopst. Der Verlauf der Belchen satt schleift uns über den halbgeschotterten Fahrweg zum Ballon der Servance hoch. Kein Spalier, kein Applaus – niemand, der mir und meinem in lebenskundlichen Dingen übrigens durchaus bewanderten Mitfahrer gratuliert für diesen Husarenritt, geschweige denn, sich nach den Hintergründen unserer Performance erkundigt. Erst am Ballon d'Alsace, bei Kilometer 450, treffen wir beim Mittagessen auf ein Subsystem aus meinem Nachbarort, Radfahrer, die uns vom ersten Moment an als Mitmenschen akzeptieren und uns ohne jede Scheu begegnen. Ich nutze diesen Umstand in der gebotenen Eile geradezu schamlos aus und versuche, sie über die epische Dimension unserer Taten ins Benehmen zu setzen. Sie lassen sich ihre gute Laune dadurch nicht verderben. 

Nachmittags, bei unserem obligatorischen Gipfelfoto am Col de Page, spricht uns ein Wandererpärchen auf unser Tun an. Vielleicht haben sie unsere Rahmenschilder bemerkt oder unseren bedenklichen Zustand. Jedenfalls bitten sie uns um eine Erklärung. Wir bemühen uns, unsere Sache so positiv darzustellen, wie es unsere zunehmende Verwahrlosung und der fortschreitende geistige Verfall nach etwa zehntausend Höhenmetern zulässt. Ich hoffe, dass sie uns für voll nehmen. Aber wir müssen sowieso beizeiten weiter: der Grand Ballon wartet noch auf uns.der allerletzte Pass: Col du Firstplan

Am Ende bleibt uns nur die Einsamkeit des Col du Petit Ballon im schwindenden Tageslicht, um uns der ganzen Tragweite unseres Tuns zu versichern. Schweigend verharren wir in der Stille des abklingenden Abends. Sitzen einfach einen langen Moment auf einer Grasnarbe, tun nichts und reden nichts. Weit und breit ist niemand, der uns ignorieren könnte. Die Straßen und die Höhenmeter, die hinter uns liegen, haben uns weiter der Mitte der Gesellschaft entfernt. Diese sitzt zur selben Zeit einvernehmlich beim Tatort und es wird wie immer verdammt schwer werden, unsere Normabweichung plausibel zu erklären – falls unsere Abwesenheit überhaupt bemerkt werden sollte.

Erwähnenswert wäre noch, dass unser dritter Mitfahrer einem Anschlag zum Opfer gefallen ist – verursacht von einem Fuchs. Von einer vorsätzlichen Tat könne jedoch nicht ausgegangen werden. Vermutlich hat das Tier unseren Kollegen einfach übersehen. Die Ignoranz dieser an sich intelligenten Tiere gegenüber Helden der gehobenen Güteklasse ist - man muss es leider sagen - erschütternd.

Strecke:

621 km

Höhendifferenz:

12200 hm

Fahrzeit:

33:26 h

Schnitt:

18,6 km/h

Gesamtzeit:

44:51 h