Mulhouse, 9./10. Juni 2007, 4.00 Uhr
Nur nichts überstürzen! Urban Hilpert und ich haben wieder auf dem Rasen des Sportgeländes übernachtet, um die frühe Anfahrt nach Mulhouse zu vermeiden. Um 3.20 Uhr geht der Wecker: rasch das Gepäck ins Auto geworfen, die Räder zusammengebaut, noch einen Happen zwischen die Kiemen gesteckt, prophylaktisch schon mal Sonnenmilch aufgetragen, die Brevetkärtchen bei der Anmeldung geholt. Und eben hier noch ein Wort gewechselt, aus der Thermoskanne noch schnell einen Kaffee gezapft, ein paar Kekse genascht, und schon haben wir den Start verpasst.
Was soll's, wir haben noch genügend Kilometer vor uns, 600 genaugenommen. Also wird erst mal ruhig durch Mulhouse gekurbelt. Die Temperaturen liegen bei angenehmen 18 Grad, das Wetter ist trocken. Es dauert nicht lange bis eine erste Gruppe vor uns auftaucht mit bekannten Gesichtern: Dominique Neff und sein Kompagnon Vincent, mit denen wir das 200er und 300er Brevet bewältigt haben. Ein weiterer Fahrer schließt sich uns an und mir tut allein schon beim Anblick des Rucksacks, den er trägt, der Hintern weh. Eh bien, dann fehlt also nur noch Jacques Raugel, und die Kampftruppe wäre soweit wieder vollständig...
Der Zusammenschluss mit der vielleicht 15-köpfigen Spitzengruppe lässt wohl eine halbe Stunde auf sich warten. Kurze Zeit später ziehen wir zu acht - zusammen mit Jacques und dem Tandem, mit dem wir schon beim ersten Brevet immer wieder gemeinsame Sache gemacht haben - von dannen. Der Rest des Feldes gibt uns freie Fahrt.
Nach Belfort zieht heftiger Nebel auf, und die Nässe in meinen Kleidern kommt diesmal nicht vom Schweiß, sondern von der Luftfeuchtigkeit. Irgendwann schalte ich meinen Scheinwerfer wieder an, obwohl es längst Tag geworden ist. Der Geruch nach Kaminfeuer inmitten des Nebels von Les Fouillies de Brest weckt nostalgische Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit, in der mir Radfahren noch suspekt war. Regentage vor prasselndem Feuer bei heißem französischem Kaffee in einem kleinen Winzerhaus inmitten der Weinberge von Bordeaux. Das nächste Örtchen heißt: Brest. Wieder Erinnerungen, diesmal aber ganz anderer Natur...
Luxueil-les-Bains, erste Kontrolle bei Kilometer 108. Wir fallen, um den ersten Stempel zu erhalten, in einer Bäckerei ein, und anstandshalber kaufe ich einen Croissant, obwohl meine Lenkertasche fast überquillt vor Futter. Die Gruppe hinter uns liegt nur wenige Minuten zurück und holt uns beim Kontrollpunkt wieder ein.
Dennoch setzen wir unseren Weg wieder zu acht fort. Der Nebel hat sich verzogen, der Himmel bleibt bedeckt, gelegentlich schimmert die Sonne hinter den Wolken durch. Trotz der paar wenigen Stunden Schlaf vergangene Nacht fühle ich mich frisch und der 28er Schnitt, mit dem wir von Hügel zu Hügel rollen, scheint mir perfekt. Weiden, Kornfelder und vereinzelte Viehherden begleiten uns auf unserem weiten Weg. Über die Entfernung mache mir keine Gedanken, sie wird mir später noch genug zu schaffen machen.
Neufchâteau, Kilometer 213, 12.30 Uhr. In einem kleinen Park legen sich ein paar von uns zwischen Hundhäufchen flach, während die anderen im benachbarten Restaurant zu Mittag essen. Ich wäre gerne früher weitergefahren, tröste mich aber damit, dass ich im Laufe des Tages noch froh sein werde um diese Pause.
Joinville, Kilometer 265, 15 Uhr. Stopp, Stempeln, Strecken. Ein Cola noch, gegen das Mittagstief. Kurz darauf biegen wir auf eine schmale, gewundene Straße ab. Pure französische Provinz. Verrückte wie wir haben hier eigentlich nichts zu suchen.
Saint Mihel - Kilometer 342 - erreichen wir um halb sieben abends, unsere Gruppe, bis dahin angewachsen um zwei weitere Fahrer, einem gewissen Didier aus Strasbourg und Emmanuel Conraux aus Belfort, macht Pause. 342 Kilometer haben wir abgearbeitet, verteilt auf unzählige Wellen. Der ganze Tag ist ein einziges Auf und Ab. Die Landschaft war und ist sehr weitläufig und friedlich. Aber in manchen Phasen frage ich mich, was ich eigentlich wirklich davon mitbekomme. Vielleicht machte es - sagen wir ab Kilometer 250 - gar keinen wirklichen Unterschied mehr, ob ich das Brevet auf einem Fabrikgelände oder in einer Mondlandschaft abfahren würde. Ich gerate in eine Art innere Immigration. Alle Äußerlichkeit ist nichts als fader Schein. Ist das die Gelassenheit eines Buddhas? Oder die Abgestumpftheit eines Langstreckenfahrers? Wer weiß - vielleicht liegt beides gar nicht so weit auseinander?
Bis Contrexéville, 100 Kilometer weiter, halten wir wacker durch. Wir sind nur noch zu dritt, Emmanuel Conraux liegt seit Saint Mihel vor uns, die anderen haben wir hinter uns gelassen. In einer Bar holen wir uns den fünften Eintrag auf unserer Karte. Zeit: 0.10 Uhr, Kilometer 443. Seit zwanzig Stunden sitzen wir auf dem Rad.
Danach geht es bergab, nicht geographisch gesehen, denn wir haben bereits wieder die bergigen Ausläufer der Vogesen erreicht, sondern mental. Die Müdigkeit nimmt überhand. Währenddessen stößt unversehens Emmanuel von hinten wieder zu uns, der sich irgendwo am Wegesrand abelegt hat. Ein Kiesstreifen an irgendeinem Ortsausgang - war es in Bains-les-Bains? - ist gerade gut genug für ein erstes Nachtlager, da hier, anders als auf dem Gras entlang der Strecke, kein Tau liegt. Auch Emmanuel legt sich nochmals schlafen. Die Kälte holt mich nach einer halben Stunde zurück ins Hier und Jetzt. Wir sitzen wieder auf, erneut zu viert.
Vielleicht dreißig Kilometer Verschnaufpause, dann der nächste Tiefschlag. Ich will nichts als schlafen, schlafen, schlafen. Raus aus dieser Maschine, die mir zu treten befiehlt, die mich zu einem lebenden Radcomputer degradiert, der nichts macht als Kilometer zählen. Nur endlich die Augen schließen dürfen. Ein Gedankenblitz noch aus dem tiefsten Inneren: was muss ich mir ausgerechnet diesem Zeitvertreib verschreiben! Wäre es nicht an der Zeit, mich anderen, schmerzfreien Dingen zuzuwenden, meinetwegen der neueren französischen Literatur...? Wann immer ich wollte, könnte ich das Buch zuklappen und die Augen schließen. Auch in diesem Bereich hätte ich es zum Spezialisten bringen können, genauso wie ich es zum Spezialisten für Langstreckenfahrten gebracht habe. Oder sollte ich sagen: zum Fachidioten?
Dieser Fachidiot legt sich zusammen mit drei anderen in Remiremont erneut schlafen, auf einer harten Parkbank aus Eisengeflecht, schläft noch fast eine ganze Stunde, und als er wieder aufwacht, ist es, als hätte der ganze böse Traum ein plötzliches Ende gefunden. Über der Stadt bricht der erwachende Tag an, gut für die Moral, gut für den geschundenen Körper. Es bleiben 100 Kilometer. Und eine Morgenlandschaft, die wie das leibhaftige Leben erscheint.
Travexin, letzter Kontrollpunkt, ist ein kleiner Ort unterhalb des Col d'Oderen (884 m). Ein Restaurant ist die einzige Anlaufstelle für einen Stempel. Die Nebentür steht offen, Emmanuel schnappt sich unsere Brevetkärtchen, verschwindet im Inneren, und gibt sie uns kurz darauf gestempelt zurück. Wie der das hingekriegt hat, bleibt sein Geheimnis, denn angetroffen hat er keine Menschenseele.
Der Col d'Oderen: ein schöner Abschluss. Eine letztes Aufbäumen setzt ein, wir schenken uns nichts und fahren am Ende doch alle vier gemeinsam über die Passhöhe. Ein Augenblick, der gerne verweilen dürfte...
Der Rest vergeht wie im Flug. Es folgt ein kilometerlanges Flachstück, eines der ganz wenigen dieser 600-Kilometer-Runde, dann Mulhouse im Morgenschlaf, und dann, endlich, der Complexe Sportif Peugeot-Citroën. Das wär's gewesen. 618 Kilometer in den letzten 29 Stunden, 1545 Brevetkilomter in 64 Stunden und 27 Minuten insgesamt, um am 20. August in Paris starten zu dürfen. Harte, schöne, genussvolle, abstoßende, euphorisierende, friedvolle Kilometer. Ganz wie das Leben selbst eben.
Adieu, les gars! Und auf ein Neues in Paris!
Strecke: |
618 km |
Fahrzeit: |
23:02 h |
Schnitt: |
26,8 km/h |
Gesamtzeit: |
29:05 h |
Höhenmeter: |
4306 |