Freitag, 29. Juni 2007
Während mein feuchtes Zelt noch steht, koche ich mir um um halb sieben Kaffee. Die Nebelgrenze liegt direkt unter mir, bald darauf zieht der Nebel noch höher und als die Sonne eine knappe Stunde später hinter den Bergen aufgeht, hat sie nicht die Kraft, mein Zelt noch zu trocknen.
Ich habe mir gestern auf der Nase, auf Armen und Beinen einen Sonnenbrand geholt, nicht schlimm, aber unangenehm. Heute creme ich mich ein, ehe ich mein Camp verlasse und die steile Abfahrt bis zum Abzweig vier Kilometer weiter hinunterrase, wo es gleich schon wieder links zum Col de Menté hochgeht.
Der Aufstieg ist nicht einfach, besonders mit kalten Beinen. Enge Serpentinen, die sich im Nebel hochwinden. Eine zähe Dreiviertelstunde lang drücke ich mich und mein Fahrzeug nach oben. Auf der Passhöhe auf 1349 Metern führt mein Weg nach links Richtung Le Mourtis, von wo aus eine Straße nach Bossòst - auf der spanischen Seite - und den Col du Portillon abzweigt. Abzweigen müsste - ich habe sie nicht gefunden, die Straße. Meine Hoffnung auf Sonnenschein in Höhenlagen erfüllt sich nicht. Im Gegenteil: der Nebel hat sich zu einer undurchdringlichen Suppe verdichtet, je höher ich komme, und in Le Mourtis sehe ich gerade noch die Hand vor Augen. Eine halbe Stunde wohl fahre ich kreuz und quer durch den Ort, lande in Sackgassen und auf Forstwegen. Außer dumpfem Baulärm gibt es keine Anzeichen von menschlichem Leben hier. Fiele ich in diesem Moment tot vom Rad - wer weiß, ob ich vor Beginn der Skisaison hier gefunden würde. Das Ende der Welt. Enttäuscht und reumütig kehre ich zum Col de Menté zurück. Meinen Ausflug nach Spanien habe ich abgehakt. Zu lange habe ich im Nebel herumgestochert.
Ich verabschiede mich vom Col de la Menté und begebe mich in einer Gruppe von anderen Radfahrern in die Abfahrt nach Saint Béat.
Knapp dreißig Kilometer weiter und eine Stunde später: ich verlasse Bagnères de Luchon, dem Startort für den nächsten Pass des Tages: den Col de Peyresourde. Fünfzehn Kilometer Anstieg. Hochnebel verdüstert die Szenerie. An meine rund 15 Kilogramm Gepäck habe ich mich längst gewöhnt. Ich schraube mich zwar nicht schnell nach oben, absolviere die 940 Höhenmeter aber in kontinuierlichem Tempo. Ich spüre meine Beine und die rund 600 Kilometer, die ich seit Dienstag zurückgelegt habe, dennoch genieße ich den Aufstieg. 75 Minuten später stoße ich durch die Wolkendecke, die kurz unterhalb des Gipfels endet, und blauer Himmel empfängt mich. Der Peyresourde.
Der Lohn für meine Mühe ist nicht nur die Aussicht von einem der höchsten Pyrenäenpässe, sondern auch ein Berg Crêpes, den ich mir auf der Terrasse der Gaststätte gönne. Zwei der Radkollegen - Mann und Frau -, mit denen ich vom Col de Menté abgefahren bin, kommen etwa gleichzeitig bei ihrem Begleitfahrzeug, einem Wohnmobil, an. Es wird nicht unsere letzte Begegnung sein. Kurz danach kämpft sich noch ein junges holländisches Paar, das ich kurz vor dem Gipfel noch überholt habe, über die Kuppe. Pro Rad führen die Beiden bestimmt das Doppelte von meinem Gepäck mit sich. Alle sind sie, wie ich, auf dem Weg nach Westen. Die Holländer wollen noch einen Pass weiter, bis nach Ste.-Marie-de-Campan, was mir angesichts ihres Gepäcks einen gewissen Respekt abnötigt.
Die Abfahrt endet in Arreau. Ich halte nicht einmal zum Einkaufen, da ich es vorziehe, kein unnötiges Gewicht auf den Col d'Aspin zu tragen. So geht es in den dritten Pass dieses Tages, der vorerst letzte für heute. Noch einmal 13 Kilometer Auffahrt bei 740 Metern Höhendifferenz.
Pässe von diesem Kaliber hakt man nicht einfach ab. Man lebt sie. Man lebt den Asphalt, den Wind, die Sonne, die Steigungsprozente, die brennenden Oberschenkel, den rasselnden Atem. Man lebt die Ankunft, wenn die Glückshormone einschießen. Das Gegenteil von Reisen light.
Die letzten hundert Höhenmeter des Aspin stecken im Hochnebel. Schade, aber so sind sie eben, die Pyrenäen. Der Weg hinunter nach Ste.-Marie-de-Campan führt zunächst durch ein zauberhaftes Hochtal, entlang des Adour de Payolle, ein wildrauschender Gebirgsfluss. Der Gegenwind im Tal verlängert zumindest den optischen Genuss der Strecke.
Sainte-Marie: Kurz zögere ich, ob ich den Col du Tourmalet heute noch angehen soll, aber es ist erst kurz nach vier Uhr nachmittags, und der Nordwestwind, der mir eben noch ins Gesicht geblasen hat, würde mir nun zum Helfer. In der Ortsmitte schart sich eine kleine Gruppe Belgier um ihre beiden Autos, ihre Rennräder, Ridleys, wie auch meines, an die benachbarte Mauer gelehnt. Brüder im Geiste. Ihr Tagwerk ist vollbracht.
Ein letztes Mal spucke ich in die Hände. 17 Kilometer bis nach oben, 1365 Höhenmeter. Sei's drum. Ich schalte meinen Motor auf stoisch. Kurble mich Meter um Meter nach oben. Der Wind trägt mich und ein unsichtbares Band, das mich nach oben zieht. Es geht alles sehr schnell, obwohl ich eine Stunde und 45 Minuten unterwegs bin. Lediglich in La Mongie, diesem entsetzlichen Ort, der im krassen Gegensatz zur gigantischen Kulisse ringsum steht, muss ich beißen. Harte Steigungsprozente bringen mir all die Berge des heutigen Tages zurück. Zwei Radreisende, ältere Herren, tauchen vor mir im Nebel auf, ihre Räder schiebend. Ich kann sie gut verstehen. Vier Kilometer verbleiben ab hier. Wir werden ihn schaffen, wir werden diesen Giganten einnehmen, ich etwas früher, ihr etwas später, was soll's, am Ende sind wir alle Sieger.
Der Sieger steht im gleißenden Sonnenlicht.
Ein paar andere Sieger kommen noch nach. Auch ein Ire und ein Schwede in meinem Alter, beide unterwegs von West nach Ost und im Begriff, ein 100-Stunden-Brevet von Küste zu Küste zu absolvieren, 700 Kilometer. Auch sie wollen dieses Jahr Paris-Brest-Paris fahren und ich gehe davon aus, dass ich ihre blauen Thorn-Bikes in Paris wiedererkennen werde. Was ich bedauere, ist, dass sie in die andere Richtung fahren.
In Luz-St. Sauveur, nach 18 Kilometern Abfahrt, finde ich am Ortseingang einen schön angelegten Campingplatz. Diesmal zögere ich nicht lange. Ein Belgier, der am Eingang sitzt, verwickelt mich gleich in ein Gespräch. Er selbst ist seit Wochen mit dem Rad unterwegs, das er zur Nacht mit ins Zelt nimmt. Neben mir hat ein Paar mittleren Alters sein Zelt aufgeschlagen. Sie verbringen den ganzen Abend darin und von Zeit zu Zeit höre ich ein gedämpftes Gurren. Nicht unangenehm. Wer zufrieden ist, fällt keinem auf den Wecker.
Strecke: |
151 km |
Zeit: |
8:31 h |
Schnitt: |
17,7 km/h |
Höhendifferenz: |
4087 m |