ARA Breisgau: 400 Kilometer Freiburg, 18. Mai 2019
Ganz, ganz langsam beschleichen den der Sache ergebenen Randonneur beim 400-Kilometer-Brevet beschwingte Ahnungen, dass da wieder was auf ihn zukommt: 2019 ist ein Paris-Brest-Paris-Jahr. Alle vier Jahre wird in der Szene das große Sommerfest gefeiert: man lässt‘s erneut ordentlich krachen zwischen Paris und Brest und baut im Übrigen darauf, dass angesichts der Unfassbarkeit der Herausforderung durch die öde Existenz mal wieder ein ordentlicher Ruck geht. Ein paar besonders Eifrige, die im März schon das Breisgauer Ventoux-Brevet bestanden haben – den Zweihunderter und Dreihunderter danach sowieso, wenn auch mit Ach und Krach – werden sich nun die 400-Kilometer-Schleife ans Revers heften, ehe sie ihre Homologationsnummern in die Anmeldemaske des Audax Club Parisien tippen und mit bedeutungsschwerer Geste auf den Absendebutton klicken.
Aber wir wollen nichts überstürzen. Wir sind beim 400-Kilometer-Brevet und nicht schon in Paris und wenn wir in all den Jahren auf der Straße eines gelernt haben, dann das: in kleinen Schritten denken – wenngleich ich letzte Zweifel nicht ausräumen kann, ob die 400 Kilometer noch zu den kleinen Schritten zu zählen sind. Erst mal losfahren, dann sehen.
Beim Losfahren sehe ich zunächst, dass ich meine Trinkflasche vergessen habe. Solcherlei Missgeschicke sind eines routinierten Langstrecklers unwürdig und man spräche besser nicht darüber, zumal ich ohnehin als Letzter zur Vogesenrunde aufbreche und es außer mir niemand merken würde: eine Art mentale Wegfahrsperre verhindert beim Start, dass ich zeitig vom Fleck komme. Aber als ich erst einmal Schwung aufnehme, spüre ich etwas von den Verheißungen der vor mir liegenden Strecke durch die Vogesen und in der aufkommenden Vorfreude fahre ich schon beim ersten Kilometer in die falsche Richtung. Man hört immer wieder, dass der Kopf auf der Langstrecke eine wichtige Rolle spielt: ich kann dies bestätigen.
Fünfundzwanzig Kilometer und über 500 Höhenmeter weiter bin ich in der glücklichen Lage, dass ich mich in einer kleinen Gruppe wiederfinde. Doch im gleichen Moment taucht rechter Hand ein Radsportladen auf und fünf Minuten später habe ich zwar eine gefüllte Radflasche an Bord, aber keine Gruppe mehr. Für Paris besteht hier noch Entwicklungspotential.
Am Ende komme ich dennoch ganz ordentlich durch den Gegenwind in der Rheinebene. Man sammelt sich ein paar Leute zusammen, die ebenfalls ihre Schwächen zu haben scheinen oder – noch schöner – einfach ohne jede Hast unterwegs sind. Als wir auf der französischen Seite bei Soulz in den Col d‘Amic hineinfahren, komme ich zum Schluss, dass alles wunderbar läuft und das Konzept der kleinen Schritte aufgeht. Col d‘Amic, Kontrollfrage beantworten, und – alleine – hinunter nach Bitschwiller-le-Thann; Stopp an einer Bäckerei – man weiß ja nie –, dann Col de Hundsrück; die Wellen von Masevaux nach Giromagny, Stopp an einer Bäckerei: nächste Kontrolle. Gegenüber, am Brunnen, sitzt eine Handvoll Gleichgesinnter bei Gebäck, Cola und Rennrad. Es sieht gemütlich aus und ich setze mich nur zu gern dazu. Aber kaum habe ich mein Pizzastück ausgepackt, sind sie auch schon wieder weg. Wenn die mal nicht ein Magengeschwür kriegen.
Dem Col de Servance sehe ich mit zunehmender Gelassenheit entgegen. Er ist kaum befahren, und so kann ich ohne strafende Blicke vor mich hinbummeln. Es käme mir zwar durchaus gelegen, den Anstieg in angemessenem Tempo hinter mich zu bringen, aber die Beine zeigen heute wenig Neigung, mich darin zu unterstützen. Umstände wie diese nütze ich bisweilen, um Pläne zu schmieden für mein zukünftiges Leben, doch wie schon in den vergangenen Jahren komme ich auch heute Nachmittag auf keinen grünen Zweig. Um oben nicht mit leeren Händen dazustehen, überlege ich mir wenigstens eine Strategie für PBP: eigentlich wollte ich immer mal mein Tempo drosseln, aber bislang hat es nicht geklappt – vielleicht ja in diesem Jahr… Die Voraussetzungen, das spüre ich bei jeder Kurbelumdrehung hoch auf 1150 Meter, sind denkbar günstig.
Am Gipfel treffe ich wieder auf Menschen, ein holländisches Radlerpaar aus der Gegenrichtung kommend, einen Mitstreiter vor mir und zwei Mitstreiterinnen, die gleich nach mir eintreffen, aber bestimmt längst auf und davon wären, wenn sie vor dem Anstieg nicht zutiefst menschliche Geschäfte aufgehalten hätten.
Unter dem bewölkten Himmel notiere ich die Antwort der Kontrollfrage in mein leuchtend gelbes Brevetheftchen, und als ich mich der Abfahrt zuwende, ist mir plötzlich, als wüchsen der Seele Flügel, was daran liegen mag, dass man zwar nur gut 150 Kilometer, aber den höchsten Berg überwunden hat. Und schon flattert sie weiter, schmetterlingsgleich, trifft in der Abfahrt den einen Kollegen, gleich darauf, im Pays des Mille Etangs, dem wildromantischen Land der tausend Seen, einen anderen, und im nächsten Flusstal gleich zwei, ein Pärchen, und alle – hätte man nur sein Näschen geputzt – dufteten sicherlich wie Frühlingsblumen. Dieses Dahinschweben unter der zartgrauen Wolkendecke ist unvergleichlich: wir flattern gemeinsam bis Luxeuil, dann packt mich ein Windstoß und treibt mich vor die Pforten eines Supermarktes, während die anderen zwischen den Häuserzeilen entschwinden: ich lasse es mir gefallen.
Der nächste Stempel ins Kontrollheft in St. Loup – nach gut der Hälfte der Strecke - ist keine Formalität, sondern in Anbetracht der vorgefundenen Örtlichkeit, einer angestammten Bar in Zentrumsnähe, eine vortreffliche Gelegenheit, den zarten Flügelchen etwas Ruhe zu gönnen und dem Leibchen etwas Speis‘ und Trank. Und bald schon mache ich mich wieder auf die Reise und im Licht des Abendhimmels wird entlang des einsamen Vallée de la Semouse alles zauberhafter, als ich es noch vor wenigen Stunden zu hoffen wagte.
Ich treffe auf zwei andere Langstrecken-Reisende, man beschnuppert sich, flattert gemeinsam weiter und beschließt, in Xertigny, kaum 30 Kilometer weiter, in einem Imbiss in einfachem, volkstümlichem Ambiente zu Abend zu essen. Danach verlieren sich ihre Spuren. Kaum auf den Rädern, schießen sie wie Raubvögel gen Saint-Dié, während mein Flügelschlag seinen zeitlosen Charakter behält. Wer lernen möchte, PBP mit Muße zu fahren, kann nicht früh genug mit dem Training anfangen.
Ich gestehe, dass es im weiteren Verlauf zäh wird. Am Kontrollpunkt in Saint-Dié bei Kilometer 300 treffe ich eine halbe Stunde vor Mitternacht meine zwei Kollegen aus dem Imbiss wieder; bei meinem Eintreffen schwingen sie sich gerade auf die Räder und können kaum fassen, wie ein erwachsener Mensch von Xertigny bis hierher so lange brauchen kann. Meine Strategie, die ich mir am Ballon de Servance so hart erarbeitet habe, ist nicht massentauglich, soviel wird mir in diesem Moment klar. Auch danach werden mir auf dem langen Weg durch die Nacht noch ein paar andere, durchaus wichtige Dinge klar, aber als ich um 4:40 Uhr in Freiburg nach den letzten hundert Kilometern mutterseelenallein im Gegenwind im Ziel eintreffe, meine Flügelchen zerfetzt und die Seele aus dem Leibe geblasen, bleiben mir nicht einmal mehr bruchstückhafte Erinnerungen davon. Der interessierte Leser wird nun den Ankömmling zurecht mit Fragen bestürmen wollen: Wie fällt nach 400 Kilometern das Fazit aus? Ist die Philosophie der kleinen Schritte wirklich praxistauglich? Lässt sich die Strategie des gedrosselten Tempos auch auf mein Leben übertragen? Haben sich auf der Strecke gar schon Vorboten des Rucks, den wir alle für unser schales Leben herbeisehnen, angedeutet? Ich muss an dieser Stelle den interessierten Leser leider enttäuschen und zu bedenken geben, dass ich nun zunächst ausschlafen muss. Dann sehen wir weiter.
Strecke: |
414 km |
Höhendifferenz: |
4500 m |
Fahrzeit: |
17:41 h |
Gesamtzeit: |
20:30 h |