Freiburg, 17. Mai 2012, Himmelfahrt. 9.00 Uhr
| Strecke |
Der Unterschied zwischen einem Fleche und einer normalen Langstrecke ist alles andere als banal. Gefahren wird zwar hier wie dort. Bei einem Brevet weiß man nie, mit wem man am Start steht - bei einem Fleche jedoch sehr wohl. Alle zwei Jahre findet so ein Fleche statt als deutschlandweite Sternfahrt zur geographischen Mitte, der Wartburg in Eisenach, - und die Teams, maximal fünf Personen, formieren sich Wochen oder Monate im Voraus. Man hat also die Chance, sich von der Creme de la Creme der Langstreckenszene durch die deutschen Landschaften geleiten zu lassen: von sehnigen Körpern, die mittels straff organisierter Beinmuskulatur auf bundesdeutschen Fernstraßen pfeilschnell Richtung Thüringen schnellen; von leidensfähigen, schlafresistenten, mental austrainierten Widerstandskämpfern, deren psychische Bugwelle einen bis hoch zur Wartburg vor sich hertreibt. Ich habe die Chance ergriffen.
Bei der Teambildung sind auch charakterliche Eigenschaften von großer Bedeutung. Es braucht einen Kapitän, der mit großer Umsicht und harter Hand seine Mannen auf das große Ziel einschwört: binnen 24 Stunden das Ziel zu erreichen. Es würde also keine nächtlichen Zwischenstopps an dubiosen Etablissements geben. Weder Alkohol und sonstige Drogen noch Funkverbindung zu den Liebsten zuhause stünden in irgendeiner Weise zur Debatte. Was einen guten Kapitän allerdings auszeichnet, ist, dass er im richtigen Moment ein Auge zudrückt. Es braucht Teammitglieder ohne Starallüren, die sich bedingungslos der Sache unterordnen und eher ihre Großmutter verkaufen würden, als am Folgetag um neun Uhr morgens auf der Wartburg auf den großen Triumph zu verzichten.
Trotz der erfreulichen Leichtigkeit, ein zweites Mal eine solche Mannschaft zusammenzustellen, weiß sicherlich jeder von uns diese erlesene Auswahl zu schätzen, als wir uns morgens um acht Uhr am Freiburger Hauptbahnhof zur Teampräsentation zusammenfinden. Alles passt, inklusive der Trikots - abgesehen davon, dass sich der Käptn, wie wir Untergebenen ihn liebevoll nennen, schon gleich zu Beginn der Ausfahrt, beim Befestigen der Startnummer am Rad, mit seinem Messer so derb in den Daumen schneidet, dass sich seine Blutspur vom Hauptbahnhof bis zum Startpunkt, einer Tankstelle im Norden Freiburgs, hinzieht. Dort tropft er im Verkaufsraum den festtäglich gewischten Boden voll, bis die mitfühlende Benzinfachverkäuferin mit einem Wundverband die erste Phase der Wundheilung einleitet. Zwischenzeitlich holen sich die Untergebenen einen letzten Kaffee vor dem großen Ritt in den Nordosten und gehen noch einmal für kleine Jungs. Wir zählen die Minuten bis neun Uhr.
Kettenschmiere glänz im Sonnenlicht, Speichen flirren durch die kühle Morgenluft: Käptns Wilde Reiter haben Fahrt aufgenommen. Vor uns liegen 520 Kilometer - noch so eine Eigenart eines Fleches: jedes Team sucht sich seine Strecke - mindestens 360 Kilometer - selbst heraus. Wie schon vor zwei Jahren ist unser 24-Stunden-Projekt auf Kante genäht. Und wie schon vor zwei Jahren hofften wir auf Südwestwind, der uns in den fernen deutschen Osten trägt. Bereits in der Rheinebene müssen wir jedoch der Realität ins windgepeitschte Auge blicken: der Wind kommt auch dieses Jahr von vorn. Also bücken wir uns etwas tiefer über den Lenker, fahren etwas dichter am Hinterrad des Vordermanns - das schweißt zusammen. Käptns Wilde Reiter sind nicht losgezogen, um die deutschen Flure mit Jammern und Wehklagen zu erfüllen.
Was bleibt von den Orten am Wegesrand? Schmucke Häuserfassaden, wie es sich für ein reiches Land geziemt. Hier wie dort und wie überall sonst auf der Welt lieben sich die Menschen oder hassen sich. Sie fallen sich um den Hals oder brennen darauf, ihrem Nachbarn denselben umzudrehen. Sie zeugen Nachwuchs oder lassen es. Sie tragen ihr Geld zur Bank. Sie bringen sich um. Sie gehen zur Arbeit oder suchen verzweifelt danach. So ist Deutschland. So wie die fünf Wilden Reiter, die nichts mit den Ortschaften verbindet und die doch für einen kurzen Moment mit ihnen verschmelzen. Prächtige Mannsbilder, raunen die Frauen am Straßenrand, die einen unverhofften Blick auf uns erhaschen - ehe in ihren Ortschaften wieder für Jahre banale Ödnis Einzug hält.
Wir reiten durch das Tal des Neckars. Meist schweigend. Ein Eisenach wird genügend Zeit zum Reden sein, aber jetzt ist Konzentration angesagt. Eine kurze Auflockerung steht in Miltenberg bei Kilometer 283 an: 60 Minuten Abendessen, Stempel Nr. 3. Die Zeit wird knapp überschritten, aber noch ist es hell, als wir die Tür der Pizzeria hinter uns schließen. Zurück bleibt ein fast leerer Gastraum, wo ab jetzt nur noch italienisches Billigfernsehen für Unterhaltung sorgt. Draußen wird ein Reifen geflickt und weiter geht's.
Die fünf wilden Reiter tauchen ab in die Dunkelheit. Schweigend. In ihren nachtblauen Trikots werden sie von Zeit zu Zeit am Main oder in den Hügeln zwischen den Mainschleifen von einsamen Autofahrern und streunendem Wild gesichtet. Müdigkeit macht sich breit.Im Geldautomatenvorraum einer Sparkasse irgendwo am Wegesrand rücken sie wieder ins Rampenlicht und vor die Linsen der festinstallierten Kameras. Das Schauspiel dauert vielleicht zwanzig, dreißig Minuten: ausgestreckt auf dem beheizten Fliesenboden schöpfen wir neue Kräfte. Dann zeichnen die Kameras wieder nichts als gähnende Leere auf. Die Uhr tickt.
In der Autobahnraststätte Mellrichstadt sorgen wir gegen 5 Uhr für ein gewisses Aufsehen. Es gibt den ersten Kaffee des Tages. Der Bedienstete hinter der Theke erkundigt sich leicht verwundert nach den Details unseres Ritts, ehe wir im Morgengrauen erneut unsere Sachen packen und sich zwischen den Zapfsäulen der schrecklich graue Alltag breitmacht.
Käptns Wilde Reiter nähern sich ihrem Ziel. Weitere Fleche-Mannschaften kreuzen unseren Weg. Zuletzt liegen nur noch die Hügel des Rennsteigs zwischen uns und der Wartburg. Wir reiten darüber hinweg. Die letzte Abfahrt nach Eisenach, die Rechtskehre, von der es hoch zur imposanten Festungsanlage geht. Wir machen uns etwas fein, ziehen das Trikot glatt. Dann hauen wir ein letztes Mal rein. Es sind viele, die mit uns, eine Viertelstunde vor Zielschluss die Rampen bezwingen. Dann ist Schluss. Das war's wieder mal. Hart, aufregend, zermürbend. Aber wollen in diesem Moment nicht unsere Wunden lecken, sondern entschlossen und verwegen in die gezückten Fotoapparate blicken. So, wie man es von Käptns Wilden Reitern erwarten kann.
Strecke: |
532 km |
Fahrzeit: |
20:05 |
Schnitt: |
26,5 km/h |
Gesamtzeit |
23:45 h |