Mulhouse, 15. April 2007, 7.00 Uhr
2003 ist eine der Jahreszahlen, die in meiner bescheidenen Existenz immer mit einem Ereignis verknüpft bleibt: meine erste Langstrecke, mein erstes Paris-Brest-Paris. Eine irrsinnige Schinderei und gleichzeitig ein großartiges, aberwitziges Erleben meiner eigenen Grenzbereiche.
Mit dem Großteil der Menschheit verbindet mich neben einem gewissen Hang zum Hedonismus die Tendenz, die unangenehme Seite der Dinge auszublenden. So ist es kein Wunder, dass ich im Jahr 2007 kaum erwarten kann, bis die Serie der Qualifikationen für PBP wieder beginnt. Am 15. April, endlich, ist es soweit. Axel Wellpott, der Mann an meiner Seite vor vier Jahren, spult seine Brevets seit mehreren Jahren in Schottland ab. Dafür treffe ich an diesem Sonntagmorgen Urban Hilpert, der so etwas wie den Archetypus eines Randonneurs verköpert. Und ein weiteres, neues Gesicht taucht morgens um 4.15 Uhr an der verabredeten Straßenecke in Freiburg auf: Arne Dyck, Triathlet, der nur mal Randonneursluft schnuppern möchte.
Von Freiburg bis zum Startort Mulhouse sind es rund 50 km. Sternenklare, mondlose Nacht, ungewönlich warm für April. Eine Weste und Armlinge über dem Trikot reichen aus, um nicht auszukühlen. Drei geduckte Gestalten, die geräschlos gen Süden huschen, über die Grenze bei Neuenburg, und von dort aus noch 15 km weiter. Als wir um sechs ins Stade Peugeot einbiegen, stehen wir vor geschlossenen Gittertüren. Sind wir zu früh dran oder ist die Veranstaltung woandershin verlegt? Kurz nach uns trifft ein Franzose mit südländischem Akzent ein. Er kommt aus Colmar und ist sich sicher, dass die ganze Angelegenheit hier stattfindet, was mich sehr beruhigt, und mein zweites Frühstück, eine Banane, schmeckt gleich viel besser.
Bald darauf ist alles wie vor vier Jahren: in der Baracke stehen dieselben Tische, hinter denen freundliche Menschen Kontrollkarten ausfüllen, dieselbe Theke, über die der schwarze Kaffee gereicht wird, und umtriebiges Volk in Radlerkluft. Fünfundsiebzig Teilnehmer, nur halb so viel wie vor vier Jahren. Arne schaut etwas schief, er glaubt sich auf einer Alt-Herren-Veranstaltung. Die Menschen unter 45 sind tatsählich in der Minderheit. Kurz vor sieben begeben wir uns ins Freie.
Bei der ersten Kontrollstelle vor Neuf-Brisach liegen 30 km Weg hinter uns. Der Veranstalter, die Association Cyclosportive Peugeot-Citroën hat hier eine Kontrollstelle organisiert, wo es neben einem Stempel auch Kuchen gibt. Von den anfangs 75 sind vielleicht noch 15 oder 20 in unserer Gruppe. Es gibt einige unter uns, die nichts anbrennen lassen wollen. Breisach ist der nördliche Wendepunkt. Ab hier geht es schnurstracks Richtung Süden. Ein leichter Gegenwind setzt ein. Im belgischen Kreisel fahren wir über die Ebene, der Tacho schwankt zwischen 34 und 38 km/h. Meine Beine fühlen sich noch frisch an, aber ich fürchte schon jetzt den Augenblick, wo sich das ändert. Einstweilen konzentriere ich mich auf den steten Wechsel: Tempo halten im Wind, nach rechts ausscheren ohne den Vorgänger auszubremsen, Tempo leicht rausnehmen, schauen, dass keine Lücke zum Hintermann aufreißt, zurückfallen lassen, den Moment erfassen, wo ich mich wieder in die beschleunigende Reihe einfädle. Mancher lässt eine Führung aus, was man bei diesem Tempo keinem verübeln kann.
Nach knapp 100 Kilometern etwa - für uns 150 - beginnt das kuppierte Terrain des Sundgau. Hügel hoch und runter. Die Homogenität der Gruppe leidet, der eine oder andere fällt zurück. Aber im allgemeinen wird gewartet, unsere Mannschaft entwickelt sich mehr und mehr zu einem "Wohlfahrtsverein", wenn die Luft reicht, wird schon mal fröhlich geplaudert.
Zweite Kontrolle in Ferrette bei Kilometer 107, nach einem kurzen Bergsprint zwischen Arne und Jacques, einem Elsässer auf einem OCCP-Crossrad, dem, wie mir scheint, keiner von uns das Wasser reichen kann. Die Kontrollstelle ist wieder vom Veranstalter organisiert. Es gibt Getränke, Kuchen, Rosinen - purer Luxus für den echten Randonneur. Hier schließen sich wohl ein paar aus unserer Gruppe dem nächsten Zug an - die Gruppe ist nun etwas dezimiert. Mit uns dabei ist wieder Maurice, der Organisator der Brevets vor vier Jahren; was er mit seinen 60 Jahren vollbringt, würde auch einem Dreißigjährigen zur Ehre gereichen.
In Meroux steht die letzte Kontrolle an, diesmal nicht organisiert, sondern so, wie es bei den Brevets Usus ist: man begibt sich in eine Tankstelle, Kneipe, Polizeistelle, oder "zum Pfarrer - da gibt's auch einen Stempel" (Maurice), streckt den Anwesenden das Kärtchen unter die Nase und bittet freundlich um einen Stempel. Wenn man Glück hat, waren schon vorher welche da, und der Geschäftsinhaber ist mit der Prozedur vertraut. Anstandshalber bestellt man vielleicht noch einen Kaffee, aber dafür nehmen wir uns keine Zeit, als wir über die erstbeste Kneipe der Ortschaft herfallen.
Wir liegen bestens in der Zeit, aber es sind so starke Leute in der Gruppe, dass an ein ruhiges Rollen nicht zu denken ist. Besonders als wir auf den Radweg entlang des Rhein-Rhône-Kanals einschwenken. Das Tempo wird hochgeschraubt auf 38, 40 km/h, bis die ersten hinten wegplatzen, und die Frontleute zur Ordnung gerufen werden. Immerhin, es funktioniert; wie gesagt, eine sehr soziale Gruppe.
Bei Brunstatt verlassen wir den Kanal - zuviel Ausflugsverkehr herrscht nun, so dicht vor der Stadtgrenze von Mulhouse. Es folgen zwei, drei Kilomter Anstieg, und ich bin ganz zufrieden, dass ich vorne einigermaßen mithalten kann. Danach allerdings ist die Luft raus, und die letzten 25 Kilometer sind sehr, sehr anstrengend, ich sehne das Ende herbei. Die Beine sind ausgepresst, der Nacken schmerzt, die Fußohlen brennen, und mehr als einmal frage ich mich, was ich eigentlich so toll daran finde. Aber dann schaut man wieder in die Gesichter der Kollegen und stellt fest, dass es denen vermutlich auch nicht besser ergeht, und das macht es wieder einfacher.
Immerhin: um 14.07 Uhr sind wir wieder in Mulhouse zurück. Sieben Stunden, sieben Minuten für 215 Brevet-Kilometer, macht einen gefahrenen Schnitt von 31,8 km/h. Von wegen: Alt-Herren-Veranstaltung!
Wir drei nehmen uns ein halbes Stündchen Zeit für eine Cola und den Rest Proviant, der noch von der Hatz übrig geblieben ist, werfen einen kurzen Blick auf Paris-Roubaix, das eben im Fernseher gegenüber der Theke läuft, reden mit dem einen oder anderen und füllen die Anmeldung fürs 300er-Brevet aus. Nur Arne nicht: Es ist nicht sein Ding, sagt er, dabei war er einer der Stärksten in der Gruppe. Solche Leute müsste man für PBP zwangsverpflichten...
Wir sitzen wieder auf unsere Räder und kurbeln etwas gemächlicher unter der prallen Nachmittagsonne zurück nach Freiburg und sind nach über 300 Kilometern froh, fürs Erste wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Urban bringt es am Ende auf den Punkt: "Die Franzosen, die fahren auch ganz gut Rad." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Strecke: |
215 km |
Fahrzeit: |
6:45 h |
Schnitt: |
31,8 km/h |
Gesamtzeit: |
7:07 h |
Höhenmeter: |
764 |