Samstag, 9. Juli 2011
| Strecke |
Den vermissten Schlüssel für mein Schloss habe ich in meinem Waschbeutel wiedergefunden. Hier oben ist dies allerdings belanglos. Wenn man an diesem Ort an ein Verbrechen denkt, dann allenfalls im Zusammenhang mit den beiden im Zelt neben mir, die irgendwann wieder ihre Maschinen anwerfen und diese makellose Stille zerstören werden. Das werde ich aber nicht mehr erleben, obwohl ich eine halbe Stunde später als die vergangenen Tage den Zeltabbau in Angriff genommen habe. Trotzdem bin ich der erste, der auf dem Campingplatz Lebenszeichen von sich gibt. Kurz darauf führt ein Engländer seinen Hund spazieren.
Meine Ziele für den heutigen Tag bleiben vage: ob ich noch eine Übernachtung einlege oder bis nach Hause durchfahre, wird sich im Laufe des Tages zeigen. Soweit ich die Straßen im schweiz-französischen Grenzgebiet kenne, sind sie - von Ausnahmen abgesehen - klein und verkehrsarm. Die Berge sind in mancherlei Hinsicht ein Segen: Genf liegt Luftlinie etwa dreißig Kilometer entfernt. Läge nicht die Kette der Monts Jura mit ihren bis zu 1700 Meter hohen, schroffen Gipfeln dazwischen, wäre die Gegend hier nichts als ein Arbeitskräftereservoir für die Weltstadt mit den dazugehörigen Verkehrsströmen. So aber ist sie eine eigenständige Welt geblieben. In der Bushaltestelle gegenüber der Bäckerei, wo ich mir meine Croissants hole, knutscht verstohlen ein Schülerpärchen, im Dorfcafé trifft sich der männliche Teil der arbeitenden Bevölkerung, um beim petit noir, dem fingerhutgroßen Tässchen schwarzen Kaffees, die letzten Neuigkeiten seit gestern Abend auszutauschen. Man verabschiedet sich mit ausladenden Gesten und Worten. Danach herrscht Ruhe. Über die Bergspitzen klettert allmählich die Sonne und ihre Strahlen wärmen die Glieder und das Gemüt. Ich liebe diese Minuten bis zum Aufbruch.
Es ist ein sachtes Auf und Ab bis zum Hochtal des Valmijoux, ein fast spielerisches Entlanggleiten Richtung Nordost, beidseits eingerahmt von sonnenbeschienenen Bergflanken. In Bois-d'Amont, kurz vor dem Übergang in die Schweiz, wähle ich ein kleines, nur außerhalb der Skisaison befahrbares Sträßchen, dass mich über teils steile Passagen auf 1200 Meter bringt. Allerorten trifft man auf Radfahrer. Ich merke wieder, wie wohltuend es ist, dieses kurze Zunicken, Zuwinken und Grüßen unter Menschen, die dieselbe Leidenschaft pflegen, dieselbe Empfänglichkeit besitzen für die Schönheiten der Natur.
Nach einer knappen Mittagspause in der prallen Sonne erreiche ich Pontarlier gegen zwei Uhr nachmittags. Ein voller Magen denkt nicht gern: er verhindert Gedanken darüber, wo am Nachmittag noch Einkaufsmöglichkeiten bestehen würden. Statt dessen wähle ich in Pontarlier unter Umgehung des Zentrums den nächstbesten Weg auf die D 47, die in einer langen, zähen Gerade wieder nach oben in eine dünnbesiedelte Mittelgebirsregion führt. Etwa zweihundert Kilometer bleiben noch bis Freiburg, die Waagschale neigt sich angesichts des frühen Nachmittags zunehmend in Richtung Durchfahren. Bisher kann ich auf eine gelungene Streckenwahl zurückblicken, abgesehen von den Straßen in Küstennähe - aber dort scheint mir der Wahnsinn unumgänglich zu sein. Hier dagegen rolle ich über Straßen, die so klein sind, dass sogar der Michelin-Karte, die ansonsten stets mein vollstes Vertrauen genießt, Fehler unterlaufen: Orte werden falsch geschrieben, Abzweigungen an falschen Stellen angegeben. Ich bewege mich im Niemandsland. Die Versorgungslage ist dementsprechend. Seit Stunden laufe ich auf meinen schmalen Reserven, reiße letzte Riegel auf, trage meine leeren Trinkflaschen von Ort zu Ort, von Hof zu Hof. In Luisans bin ich glücklich, einen Friedhof zu finden, der Wasser im Angebot hat. Zwar ist es kühl auf den Hochplateaus, auf denen ich mich gen Norden durchschlage, aber ohne Wasser geht nun mal nichts. Ich hoffe auf auf ein offenes Geschäft in St. Hippolyte am Ende des Dessoubretals und trete etwas heftiger in die Pedale, um vor neunzehn Uhr dort zu sein. Doch die Strecke zieht sich hin und der Gegenwind im Tal tut sein Übriges, um mich an meine Leistungsgrenzen zu bringen. Dennoch: um halb sieben fahre ich durch die Stadt, wo die Dessoubre in den Doubs mündet und lade mir im örtlichen Supermarkt erleichtert meine Taschen voll. Ein Picknick im Park folgt gleich im Anschluss. Noch liegen 150 Kilometer vor mir.
Die Straße von St. Hippolyte bis Pont-de-Roide ist einer der wenigen Abschnitte der letzten Tage, die selbst am Samstagabend mit dem Rad penibel zu befahren sind - das Verkehrsaufkommen ist enorm. Es gibt teilweise eine Ausweichmöglichkeit jenseits des Doubs, aber nun, da ich entschieden habe, heute Nacht noch bis Freiburg zu fahren, halte ich mich nicht auf mit der Suche nach dieser möglicherweise kritischen Alternative. Augen zu und durch. Dies gilt auch für Montbéliard bis zu dem Zeitpunkt, wo ich nach einer Fahrt durch die Vororte in Etupes auf den Rhein-Rhône-Kanal stoße. Diesen Moment habe ich in den letzten Stunden herbeigesehnt.
Nach den vielen Kilometern der letzten Tage ist der Radweg am Kanal so etwas wie eine Einflugschneise für den Heimkehrer nach Freiburg. Zwar bleiben immer noch gut über hundert Kilometer, aber sie sind flach und ordentlich beschildert. Man setzt mit seinem Gefährt auf und lässt es ausrollen, nimmt den ganzen Schwung der vergangenen Tage mit, um in einem kleinen, verschwiegenen Triumphzug auf Mulhouse zuzuhalten. Nach einer kurzen Regenphase am frühen Abend hat der Himmel wieder aufgeklart. Sonnenuntergangsstimmung umgibt den Kanal mit seinen Schiffen, diesen stummen Flussbewohnern, die den Reisenden teilnahmslos beim Kurbeln begleiten. Wenn ich meine Geschwindigkeit hochhalte, so auch deswegen, weil mir daran gelegen ist, die Dämmerung noch auszunützen, da meine Beleuchtung nur eingschränkt brauchbar ist - eine Nachtfahrt hatte ich nicht auf dem Plan. Erschwerend kommt hinzu, dass die hohe Mückendichte eine Brille verlangt, in meinem Fall die Sonnenbrille. So fahre ich denn mit abgedunkelten Augengläsern und Sparbeleuchtung in die Nacht hinein, vorbei an zahlreichen Schleusen, kleinen Grillparties am Kanal und einem größeren Dorffest mit erhöhtem Spaziergängeraufkommen, das mir in der Dunkelheit mit meiner Sonnenbrille ernsthaft Probleme macht. Irgendwann habe ich ein Einsehen und verstaue sie in der Lenkertasche.
Mulhouse erreiche ich eine Stunde vor Mitternacht. Es ist fast schon wie Heimkommen. Wäre da nicht der Regen, der an der Grenze einsetzt und zunehmend heftiger wird. Aber er ist warm und tut diesem großen Gefühl, anzukommen, keinen Abbruch. Vier lange Tage sur la route, vom Mittelmeer nach Freiburg, neigen sich ihrem Ende zu. Bis Freiburg zieht sich der Regen hin. Aber selbst unter diesen Umständen, zu dieser späten Stunde, sehe ich in den Straßen der Breisgaumetropole wohl fast so viele radfahrende Menschen wie auf der gesamten Strecke zusammengenommen. Mir ist, als hätte hier alle Eile mit einem Mal ein Ende. Dass ich ausgerechnet auf diesem Flecken Wurzeln schlagen durfte, ist ein feiner Zug des Schicksals.
Strecke: |
352 km |
Zeit: |
14:36 h |
Schnitt: |
24,1 km/h |
Höhendifferenz: |
2010 m |
Gesamtstrecke: |
948 km |