Fünf Pässe und ein Halleluja Meiringen, 14. August 2010
| Strecke |
6.45 Uhr: Zum Aufbruch schallt aus den Lautsprechern ein bombastisches Halleluja von Georg Friedrich Händel durch Meiringen. Halleluja, denke auch ich, jetzt geht's also los... 1100 Beinpaare beginnen damit, sich warmzufahren, die ersten paar Meter im Rhythmus des Oratoriums, aber schon Sekunden später ist aus dem Largo ein Allegro geworden. Die applaudierenden Menschenmengen am Straßenrand bleiben zurück und unser Zug rollt schnurstracks auf die Berge zu. Halleluja.
Meine Beziehung zum Alpenbrevet ist nicht ganz ungetrübt. 2006 war die Strecke wegen Schneefalls nur teilweise passierbar, 2008 hatte ich einem Schuhproblem zu verdanken, dass ich mit der Gold-Strecke vorlieb nehmen musste. Dass bei der diesjährigen Austragung ein Tag vor dem Start ein Erdrutsch den Grimselpass lahmlegte, kam für mich insofern keineswegs überraschend. Ich bin überaus gespannt, wieviel Teilnahmen noch nötig sind, damit auch ich endlich in den Genuss der Originalstrecke mit fünf Pässen komme: Grimsel, Nufenen, Lukmanier, Oberalp und Susten. Dieses Jahr sind also Grimsel und Nufenen aus dem Menü gestrichen, ersetzt durch Susten und Gotthard. Höhenmeter und Streckenlänge sind immerhin nahezu identisch, die Quälerei würde also die gleiche bleiben. Das tröstet mich sehr.
Ein weiterer Trost: das Wetter ist besser als prognostiziert. Aber jeder ahnt es: der Wettergott spielt mit uns. Immerhin ist bis zum Fuß des Sustenpasses noch kein Tropfen Regen gefallen. Ich habe mich irgendwo im vorderen Viertel eingereiht, als die Anstiege des Susten die Gruppen mehr und mehr ausdünnen und erste Lücken entstehen. Das ist gut so. Denn etliche Fahrer der zahlreichen Begleitfahrzeuge suchen ihrerseits den Nervenkitzel und überholen in einer Weise, die ihre Entschlossenheit hinsichtlich der Erfüllung ihrer Pflichten signalisiert. Vermutlich gibt es innerhalb der Begleitfahrzeugpiloten auch eine eigene Wertung. Andererseits muss man die Dringlichkeit verstehen: nichts geht dem Athleten über ein aufmunterndes hopp-hopp seiner Lieben neben dem eilends geparkten Wagen. Es spricht also auch ein gewisser Neid aus mir.
Der Susten ist in den oberen Abschnitten einer der schönsten Pässe in meinem Portfolio. Immer wieder eröffnen sich Ausblicke übers Tal, wo nun die Nebelschwaden wabern. Ein kurzer Regenschauer warnt vor Übermut, ehe, völlig unverhofft, die Sonne durchbricht und die nasse Straße wie Gold erstrahlen lässt. Es sind phantastische Minuten. Ich sage mir: merk dir diesen Moment, es wird der schönste des ganzen Tages sein. Die Beine sind frisch und die Zuversicht kennt keine Grenzen.
Diese Zuversicht endet jäh, als ich nach einem Sekundenstopp auf der Passhöhe wieder in die Pedale einklicke. Mein rechter Fuß findet keinen Halt. Die Nase der Schuhplatte ist gebrochen. Die Tatsache, dass ich die Schuhplatten zwar im Vorfeld gecheckt und für tauglich befunden habe, bedeutet keineswegs, dass sie auch halten: das Alpenbrevet wartet immer wieder mit neuen Überraschungen auf. Nun schlüge die Stunde des Betreuers. Damit meine ich: die Ersatzradschuhe vom Rücksitz angeln und, eine Hand am Lenkrad, mir in rasender Talfahrt den alten Schuh ausziehen und den neuen drüberstülpen.
Mein Betreuer arbeitet in einem Radladen am Ortseingang von Andermatt, wohin ich es mich mit gelegentlichen Tritten ins Leere aber ansonsten mit Anstand geschafft habe. Er wechselt die Schuhplatte mit professionellem Charme und akzeptiert Kreditkarten. An dieser Stelle ein herzliches Vergelt's Gott und ein Lobgesang auf den Einzelhandel!
Acht Minuten hat mich die Affaire zurückgeworfen, acht Minuten, die mir Unbehagen bereiten und mir den lieben langen Gotthard hoch einheizen, nicht zuletzt aus der Angst heraus, in Airolo wegen Zeitüberschreitung aus dem Verkehr gezogen zu werden. Außerdem halte ich es für erwiesen, dass mein wahrer Platz im Feld acht Minuten weiter vorn liegt. Erst am Lukmanier reift die Erkenntnis, dass er in Wirklichkeit viel weiter hinten liegt.
Kann ich mich zunächst im Anschluss an eine Kräfte zehrende Talfahrt im Gegenwind bis Biasca noch für ein paar Kilometer an einer Gruppe festbeißen, reißt der Faden kurz darauf. Fahrer, die ich noch nie gesehen habe, überholen mich. Sie kommen aus dem Nichts und verschwinden im Nichts, während ich auf der Stelle trete. Die 35 Kilometer des Lukmaniers lassen sich mit einem Wort zusammenfassen: L wie Leiden. Wahrscheinlich ist es reiner Zufall, dass das Wort Manie ebenfalls in diesem vermaledeiten Anstieg enthalten ist. Tatsache ist aber, dass mein Kurbeln zur reinen Zwangshandlung verkommen ist. Mit jeder hart abgerungenen Umdrehung sehe ich das Ziel weiter entschwinden. Zu allem Übel setzt nun der seit langem befürchtete Regen ein.
An der Verpflegungsstelle auf der eiskalten Passhöhe bin ich nicht der Letzte. Aber alles, was nach mir kommt, fürchte ich, lauert nur darauf, mich zu fressen. Ich stecke genügend Gels und Riegel ein: vielleicht war es auch ein Fehler, die Verpflegung in Biasca auszuschlagen.
Tatsächlich fasse ich wieder etwas Mut auf dem Weg zum Oberalppass. Ich fühle mich imstande, mit der Startnummer 1094 ein Gespräch zu führen, ehe sie mir leichten Tritts enteilt. Dennoch: meine Schuhplatten zeigen langsam wieder Biss und verhindern an den steilen Kehren des Schlussanstiegs das Schlimmste.
Von der Abfahrt nach Andermatt will ich gar nicht reden, sie ist um keinen Deut besser als der Anstieg. Der Regen macht ein einziges Fiasco daraus. Auf dem Weg nach Wassen verliere ich nochmals gefühlte 50 Plätze auf meine Leidensgenossen. Erst im Anstieg zum Susten mache ich wieder die ersten Plätze gut. Dass ein Heer von Fahrern bereits durchgezogen ist, belegen die vielen leeren Geltuben am Straßenrand. Genaugenommen ist es nicht die feine Art, mit diesen Hinterlassenschaften den Nachfolgenden gegenüber seine Überlegenheit zu demonstrieren.
Wer treu zu mir hält, sind die vielen Begleitfahrzeuge. Manch eines ist wohl schon zum zwanzigsten Mal an mir vorbeigezogen. Mit der Zeit kenne ich ihre Kennzeichen auswendig. Wäre die Strecke noch länger, würde ich sie auch an ihrer jeweiligen Duftnote erkennen. Ich danke dem Himmel, dass sie es nicht ist. Oben auf dem Sustenpass könnte ich auf die Knie fallen. Ich erinnere mich daran, dass uns heute früh die Sonne für einen kurzen Augenblick zur Seite stand. Wenigstens da hatte ich recht: es war der schönste Moment des Tages.
Nicht ganz: der schönste Moment ist der, als ich bei Einbruch der Dämmerung die Ziellinie überquere. Die Abfahrt vom Sustenpass im strömenden Regen war die Hölle, ich friere, ich zittere, ich bin kaputt, ich bin ein Staubkorn in diesem Universum von Fels, Nässe, Nebel und Kälte, eine Maschine, die irgendwie noch funktioniert. Aber ich bin angekommen. Das zählt. Und sonst gar nichts.
Strecke |
283 km |
Höhendifferenz |
6765 Hm |
Fahrzeit |
12:31 h |
Schnitt |
21,5 km/h |
Gesamtzeit |
13:11 h |
Platzierung |
75 (152) |