ARA Breisgau: Mont-Ventoux-Brevet 600 Kilometer 28. März 2018, 5 Uhr
Besonders dann, wenn mich zehn oder auch elf frisch polierte Ritzel anstrahlen, wird mir klar, dass unsereiner überhaupt keinen Grund hat, sich zu beschweren. Noch vor hundert Jahren wussten unsere Vorfahren nichts von Schaltungen am Rad - geschweige denn von Klickpedalen. Mit schwergängigem Material waren sie unterwegs auf unwegsamen Schotterstraßen, jahrelang und jahrzehntelang. Zu allem kam dann noch diese unsägliche Regierung von Nichtsnutzen an die Macht, die die Menschen in den Krieg statt zum Radfahren schickte. Ach, ach, meldet sich da der ewige Randonneur in mir ungefragt aus dem Off, man wünschte, all die armen Teufel, die mit fliegenden Fahnen nach Russland gezogen sind, hätten ihre Kühnheit - statt an der Ostfront - auf Brevets unter Beweis stellen können. Das sagt sich natürlich leicht, aber leicht war damals überhaupt nichts, was ich wiederum von meinem alten Geschichtslehrer weiß, dessen Unterrichtsstunde zielsicher auf seine Erinnerungen an den Russlandfeldzug hinauslief. Dann saß er zusammengesackt am Pult, sein Redefluss geriet ins Stocken, Speichel rann aus seinen Mundwinkeln und Tränen übers Gesicht. Seine Stärke war nicht die Vermittlung von geschichtlichen Details, sondern einer wertvollen und schlichten Erkenntnis: Das Leben macht keine Geschenke. Das war nachhaltig.
Immerhin haben wir daraus gelernt und stehen im März 2018 nicht mit Maschinengewehren an Don oder Dnjepr, sondern mit den Rädern am Ufer des Doubs. Man stößt am frühen Nachmittag eine Glastür auf. Man hat zehn Stunden im Sattel und davon fünf Stunden eisiger Regenfahrt hinter sich und jede Menge Gegenwind. Man befindet sich auf dem Mont-Ventoux-Brevet. Man wusste im Voraus, dass es kein Zuckerschlecken wird. Beim Betreten der Bar wird man selbstverständlich jeden Mitleid heischenden Eindruck vermeiden und sich wie ein Held an den Bistrotisch setzen und keinen Kaffee bestellen, sondern Pastis. Auf der nassen Mütze steht: Audax Randonneurs Allemagne. Das heißt etwas frei übersetzt so viel wie: Das Leben macht keine Geschenke. Man wird die Mütze aufbehalten, während die Jacke am Stuhl hängt und tropft und tropft, obwohl man sie draußen schon ausgeschüttelt hat wie ein Irrer. Auch die Frau in unseren Reihen wahrt die Contenance. Sie trinkt Tee und macht Scherze. Wir blicken nach draußen: es regnet, regnet und regnet – in Strömen. Wir bestellen einen weiteren Pastis. Die Frau in unseren Reihen bestellt eine Orangina und macht Scherze. Die Wirtsleute dagegen machen keine Scherze, aber auch keine Umstände, und stellen uns die Getränke mit einem lässigen Schwung auf den Tisch. Mitleidslos. So geht Brevetfahren.
Die zweite Kontrolle ist in Lons-le-Saunier, 260 Kilometer vom Start. Ungefähr 180 davon sind wir im Regen gefahren. Wir – das waren ursprünglich etwa 40 Starter. Niemand weiß, wie viele davon noch unterwegs sind und wie viele der Regen weggespült oder der Wind weggeblasen hat oder wie viele davon mit Schüttelfrost am Straßenrand liegen. Unser kleiner Stoßtrupp, vier Mann und die Frau in unseren Reihen, erreicht Lons-le-Saunier gegen acht Uhr abends, nach fünfzehn Stunden auf dem Rad. Am Ortseingang lehnen Dutzende von Rädern vor einem Hotel-Restaurant. Wieder tritt man durch eine Glastür und stellt mit Schaudern fest: das ist kein Feldzug mehr nach Süden, hier sind versprengte Truppen auf dem Rückzug; es geht nur noch darum, seine Haut zu retten. Säße hier mein alter Geschichtslehrer mit seinen Tränensäcken unter den Augen und einem Tornister auf den Knien, es würde mich nicht wundern. Chaos herrscht im Speisesaal. Niemand hatte mit diesem Ansturm von durchweichten, hungernden, frierenden radfahrenden Landsern gerechnet. Die einen stehen für ein Hotelzimmer an der Rezeption an, die anderen warten mit glasigen Augen auf ihre Pizza. Die Fenster sind beschlagen, das Service-Personal watet durch Pfützen. Ich bestelle mir heißen Tee.
Bei Kilometer 260 nehmen für gewöhnlich nur die Schwachen und Kranken ein Hotelzimmer, schließlich bleiben noch 350 zu fahren bis zum morgigen Abend. Dennoch gibt es nur wenige, die hier nicht übernachten, obwohl – oder weil – das Gerücht die Runde macht, dass es mit dem Unwetter nach Mitternacht ein Ende haben solle. Das Personal rennt hin und her, rollt mit den Augen. Immer wenn wieder eine Pizza zu den Tischen getragen wird, recken die Fahrer die Hälse: es könnte ja die eigene sein. Sie alle sehen aus, als läge Schreckliches hinter ihnen. Aber man will sich nicht beklagen – das Ventoux-Brevet ist kein Zuckerschlecken, das weiß jedes Kind. Man bekommt, was man verdient. In meinem Fall: heißen Tee. Aber es hat gedauert.
Meine bisherigen Mitfahrer samt der Frau in unseren Reihen entscheiden sich für ein Hotelzimmer. Von einem von ihnen übernehme ich dessen Hotelzimmer in Ambérieux, 90 Kilometer entfernt. So wie ich ihn kenne, steht er vor der Rezeption und lächelt in sich hinein. Was auch sonst? Mir mitfühlend über den Kopf streichen? Ein Brevet ist kein Streichelzoo.
Zum Äußersten entschlossen, trete ich mit vier weiteren Landsern in die Nacht hinaus. Wir werden nun Schlimmes erleben, aber in Ambérieux wartet ein Hotel auf uns. Mir kommt ein letzter guter Gedanke, bevor Kälte und Regen wieder das Regiment führen: Schlimmer kann‘s eigentlich nicht kommen.
Es kann schlimmer kommen. Zehn Kilometer vor Ambérieux, es ist mittlerweile halb zwei Uhr nachts, sitze ich mitten im Nirgendwo am Straßenrand auf der überspülten Straße, die Beine aufgestellt, zwischen Fersen und Gesäß fließt ein munteres Rinnsal hindurch. Ich habe den Kopf in meine Handschuhe gelegt, sie sind nichts als zwei nasse, eisige Lappen, die um zitternde Finger gewickelt sind, die an zitternden Armen hängen, die zu einem zitternden Leib gehören. Um mich herum versuchen ein paar Kobolde in Warnwesten, mit ihren klammen Fingern einen Reifen von der Felge zu wuchten, den defekten Schlauch gegen einen neuen zu tauschen und der Felge gegen deren vehementen Widerstand den Reifen wieder gewaltsam aufzuzwingen. In Wirklichkeit ist das alles noch viel komplizierter, als es sich anhört. Ich weiß nicht, wie lange das Ganze sich bereits hinzieht und noch hinziehen wird. Stirnlampen tanzen rund um mich herum, der Regen prasselt und prasselt. Man kann das alles nicht beschreiben. Man kann dabei nicht einmal zusehen. Ich ziehe mir die Mütze ins Gesicht, schließe die Augen und denke nur, was habe ich verbrochen, dass mir das Schicksal so übel mitspielt. Ich könnte mit meinem alten Geschichtslehrer um die Wette heulen.
Kurz vor zwei Uhr stehen wir mitten in Ambérieux, aufgeschwemmt, ausgemergelt. Wir stecken die übernächtigten Köpfe zusammen und beratschlagen, wie das Hotel zu finden wäre. Dann richten wir den Blick wieder nach oben: ein Fahrzeug mit Blaulicht kommt auf uns zugefahren. Ein Krankenwagen. Leute in diesem Beruf haben einen guten Riecher für Menschen in Not. Alles okay mit euch? Nein, möchte man antworten, wir sind halbtot. Ob Sie uns wohl einen trockenen Platz zum Sterben wüssten? Statt dessen gibt man zurück: Ja, ja, wir suchen nur das Ibis-Hotel… Ibis? Okay, passt auf, wir fahren euch voraus. Die beiden im Führerhaus wissen, wie man mit Leuten in höchster Not umspringt: man gibt Gas. Woher sollen sie wissen, dass wir in den vergangenen zwanzig Stunden bereits 370 Kilometer gefahren sind? Mit Blaulicht ziehen sie fünf multimorbide Radfahrer durch die menschenleeren Straßen hinter sich her. Das Blaulicht entfernt sich mehr und mehr, während wir hinterherhetzen. Die zwei im Fahrzeug sind verrückt. So geht man nicht mit Notfällen um. In dieser Welt gibt es kein Mitgefühl mehr. Wir erreichen das Hotel dennoch lebend, nachts um zwei Uhr. Die Frau an der Rezeption ist ein Engel – sie umsorgt uns, wo immer es geht. In ihren Armen könnte man vertrauensvoll sein Leben aushauchen.
Natürlich regnet es die Nacht durch. Nach drei Stunden Schlaf machen wir uns fertig fürs Frühstück, während es draußen unter grauem Himmel nieselt. In feuchten Klamotten tragen wir unsere Räder ins Freie, wieder zu fünft. Bei Bourgoin-Jallieux reißt der Himmel auf. Danach gibt es wieder eine Panne, die uns mehr Zeit kostet, als wir zur Verfügung haben und keinen anderen Ausweg zulässt, als den Unglücklichen mit dem defekten Rad seinem Schicksal zu überlassen. Wir rollen aufs Vercors zu, zu viert, und dann holt uns der Zurückgelassene wieder ein, wir fahren am Nachmittag unter dem fahlen Licht der Nachmittagssonne hoch nach Léoncel auf 900 Meter. Der Wirt in der dortigen Auberge lächelt vor sich hin, als er uns kommen sieht. Ich kenne ihn von den vielen Jahren zuvor und nehme an, dass er davon ausgeht, dass etwas mit uns nicht stimmen kann, dass wir immer zu dieser Jahreszeit vorbeikommen.
Dann geht es die lang ersehnte Abfahrt hinunter in die wirkliche Provence. Es ist nicht warm, aber wärmer als bisher. Nach Aouste biegen wir rechts ab auf einen kräftezehrenden, schlecht asphaltierten Weg. Es wird Abend. Dann geht es nochmals Richtung Süden, rechter Hand liegt die Rhôneebene vor uns, die Sonne verabschiedet sich nach ihrem kurzen Auftritt über den Hügeln der Ardèche. Linker Hand steht der Mont Ventoux, schneeverhüllt in all seiner Pracht. So wird mir jedenfalls berichtet. Ich habe ihn nicht gesehen. Ich sehe nur noch, dass uns die Zeit davonläuft in diesem Auf und Ab.
Um 20:35 Uhr, fünfundzwanzig Minuten vor Zielschluss, erreichen wir das Ziel in Nyons: Les Gourmandines, eine gepflegte Kneipe im Zentrum der Stadt. Ein gutes Dutzend Davongekommener hat sich bereits vor mir hier eingefunden, sie machen keine gute Figur. Ich fühle mich – wie andere auch – zu zerschlagen, um die Ereignisse auf diesen sechshundert Kilometern in behutsam geführten Gesprächen zusammen mit meinen Leidensgenossen aufzuarbeiten. Seither überkommt mich von Zeit zu Zeit ein merkwürdiger Speichelfluss und ich spüre eine gewisse Neigung, die wiederkehrenden Erinnerungen jedem, der sich dafür anfällig zeigt, vor Augen zu führen, wie es Veteranen zu tun pflegen. Besser also, man geht mir aus dem Weg. Ohnehin wird niemand die Schrecken dieser fast vierzig Stunden nachempfinden können, außer jenen, die in diesen historischen Tagen des März 2018 selbst unterwegs waren. Allenfalls noch mein Geschichtslehrer, aber der ist inzwischen leider tot. Der ewige Randonneur in mir, der sonst alles besser weiß, ist seit Lons-le-Saunier übrigens sehr zurückhaltend mit Prognosen und überhaupt, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, wollten wir uns keinesfalls beschweren.
Strecke: |
615 km |
Zeit: |
39:35 h |