Mittwoch, 22.März 2006
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Nebel, soweit das Auge reicht. Links, rechts, hinter uns, vor uns. Für uns unsichtbar liegt dahinter der Schnee, meterhoch, auf den Bergen der Vogesen, auf den Bergen des Schwarzwalds. Und wir fahren zwischendurch, auf der Rheinschiene, der B 3, nach Süden. Wir sind nicht auf irgendeiner Trainingstour, unsere Flucht aus dem kalten Norden ist von langer Hand vorbereitet.
Es ist kühl, vier Grad zeigt die Anzeige auf dem Radcomputer, und, wer immer uns beobachtet auf unserem Weg, wird sich fragen, was um alles in der Welt diese zwei Gestalten mit ihren Gepäcktaschen an den Rädern zu dieser Jahreszeit im Schilde führen. Ihre freien Tage würden die zwei wohl besser auf der Langlaufloipe oder im Hallenbad verbringen als auf der feuchten Straße, werden sie denken. Vielleicht haben sie recht, aber was nützt's: nun sind wir unterwegs. Weit, weit vor uns,; jenseits des Nebels, viele Berge entfernt, thront der Mont Ventoux, unser Ziel.
Seit heute früh um sieben halten wir uns Richtung Schweiz, Urban Hilpert, wieder in bestechender Frühjahrsform, und in seinem Spritzwasser ich, deutlich weniger kälteresistent und noch auf Formsuche, aber willig, meinen Teil zum Unternehmen beizutragen. Dass es nicht einfach wird, spüre ich schon nach den ersten zwanzig Kilometern, als die Kälte mehr und mehr in die Füße kriecht, so sehr ich auch kurble. MIt wachsamem Auge verfolge ich die Temperatur auf dem Display, aber sie bleibt stur bei 4 Grad. Wir sind nicht weniger stur und steuern Basel an - bei fünf, ja, endlich sechs Grad. Vielleicht sitzen wir ja doch am längeren Hebel, wenn wir die Zähne nur genug zusammenbeißen.
Bei Riehen passieren wir den Zoll. Ungewöhnlich: selbst die Schweizer Zöllner scheinen in ihrer Amtsstube festgefroren zu sein. Um als Radler von Basel aus die Schweiz zu durchqueren, begibt man sich am besten zum Schweizer Bahnhof, von wo aus alle Fernradwege starten. Die Markierungen sind tadellos, und die Schweizer Wegeplaner sind nicht krampfhaft bemüht, die Radwanderer von vielbefahrenen Straßen fernzuhalten, um sie möglichst ohne die Autofahrer zu behelligen kreuz und quer durch die Stadt zu schleusen. Die Nord-Süd-Route verläuft jedenfalls einigermaßen stringent, und wir halten uns nicht länger als nötig im Verkehrsgewühl der zweitgrößten Stadt der Schweiz auf. Bisher können wir zufrieden sein: siebzig Kilometer in zweieinhalb Stunden, Rückenwind und, wenn man mit maximalem Optimismus den Himmel lange genug betrachtet, die Chance, dass sich der Nebel lichtet. Vorerst bleibt jedoch alles beim Alten.
Bei unserer Routenplanung haben wir angesichts der Wetterprognosen und der relativen Höhe des Juras anders als im letzten Jahr der Schweiz den Vorzug gegeben. Unser Ziel ist, in möglichst kurzer Zeit möglichst weit in den Süden zu gelangen, in der Hoffnung auf mildere Temperaturen. Wir folgen dem Radweg bis Liestal, nehmen dann unser Schicksalselbst in die Hand, indem wir auf die N 12 wechseln, Richtung Solothurn. Urban hält es für möglich, dass sich nach der Passage über den Hauenstein (731m) das Wetter ändert. Und richtig: schon am Fuss des Berges bricht die Sonne durch die Wolkendecke, mein Innerstes jubiliert. Wir haben den richtigen Tag für unser Projekt erwischt, so scheint es. Der Hauenstein mit seinen verschneiten Hängen ist sehr schön und gleichmäßig zu fahren, der Verkehr hält sich in Grenzen. Um 12.50 Uhr stehen wir vor den Toren Solothurns. Unser Plan misslingt, hier Nachschub für die Trinkflaschen zu besorgen - 2,50 SFr für eine 0,3 l Flasche Mineralwasser ist nichts, womit man uns ködern könnte. Also weiter auf der N 22 in Richtung Lyss. Eine halbe Stunde später, bei Kilometer 150, gibt es an einem Brunnen Wasser umsonst und als Dreingabe eine Mauer als Sitzgelegenheit. Um Zeit zu sparen, haben wir zuhause ordentlich Proviant eingepackt, der nun nach und nach umgeschichtet wird - aus den Lenkerbeuteln in die Mägen. Nach einer halben Stunde geht's weiter.
Der blaue Himmel des frühen Nachmittags zieht nach und nach wieder zu, aber die Füße sind nun warm, der Wind bläst immer noch angenehm von hinten und die Straße verläuft flach und in direkter Linie Richtung Genf. Wir wechseln auf die N 1. Auch hier herrscht relativ wenig Verkehr und unsere motorisierten Schweizer Mitbewerber erweisen sich als ausgesprochen zivilisiert. Kein Hupen, auch wenn wir mal nebeneinander fahren, großzügig bemessene Überholmanöver. Schon rückt Lausanne am Genfer See in Reichweite und die Idee, Genf vor 22 Uhr zu erreichen, ist plötzlich nicht mehr abwegig. Moudon: Boxenstopp. Cola, Vesper, Vitamine, Glucose, das Ganze garniert mit einem Gewitter schräg links von unserer Fahrtrichtung. Optisch ein Hochgenuss, bringt das dem Radler aber nicht wirklich etwas - außer feuchte Füßen durch die nun wieder eingenässte Straße. Von oben her bleibt es jedoch trocken.
Vor Lausanne, für uns unerwartet, der Höhepunt des Tages: der Col du Chalet a Gobet mit 872 m. Er schraubt sich gleichmäßig hoch, allein die Kälte und die Feuchtigkeit machen ihn etwas unangenehm. Nach Lausanne windet sich die Straße in engen Schleifen bis zum See hinab. Die Nacht bricht an und bringt den Regen zurück, kaum wärmer als bei uns zuhause. Das wirklich Nachteilige daran ist, dass die Scheinwerfer auf dem regennassen Asphalt viel von ihrer Leuchtkraft einbüßen und die Fahrt auf dem Radweg entlang des Genfer Sees zum russischen Roulette wird, weil man Bordsteine und sonstige Hindernisse erst wahrnimmt, wenn es bereits zu spät ist. Also wechseln wir aus Sicherheitsgründen wieder auf die N 1 und nehmen wieder Fahrt auf in Richtung Genf. Lichter vom anderen Seeufer tanzen auf dem Wasser, lassen Gedanken aufkommen von warmen Appartments und fein duftenden Menüs.
Noch vor 22 Uhr passieren wir den Genfer Bahnhof, früher als wir zu hoffen gewagt hatten. Hier nehmen wir, im Schutz der warmen Bahnhofshalle, unser Abendmenü zu uns: Sandwiches und Schokoriegel. Das Soll ist erfüllt, 320 km liegen hinter uns - ein Gefühl, fast so euphorisierend wie eine Tafel voller Delikatessen.
Wir verlassen die Schweiz umgehend, halten uns südwestwärts den Rhône lang. Irgendwo nach der Grenze finden wir einen Rastplatz mit Büschen und Grasflächen. Ich beginne, das Zelt aufzustellen, Urban blickt zum Himmel und stellt fest: Heute nacht regnet es nicht. Er möchte draußen schlafen. Drei Minuten später, im Platzregen, geht er mir beim Zeltaufbau zur Hand.
Strecke: |
351 km |
Zeit: |
13:50 h |
Schnitt: |
27,0 km/h |
Höhendifferenz: |
2190 Hm |