Für den Rennradler gibt es im Grunde zwei Arten, sich fortzubewegen: im Wind und im Windschatten. Im Wind: das ist der richtige Modus für abgeklärte Solisten, für kraftstrotzende Egozentriker und für echte Teamplayer. Echte Teamplayer sind aber genauso hinten zu finden, wo der Windschatten so lange der Erholung dient, bis es der Turnus - oder der Anstand - gebietet, sich wieder dieser selbsterzeugten Naturgewalt "Wind" auszusetzen, die dem Fußgänger und seiner Veredelung, dem Läufer, ja, manchem Mountainbiker, nur vom Hörensagen bekannt sein dürften. Das Pendant zum echten Teamplayer ist der echte Schmarotzer, der fünf oder zehn Kilometer beharrlich am Hinterrad fahren kann, ohne die geringsten Anstalten zu machen, die Führung zu übernehmen, um sich dann im geeigneten Moment mit einem Puls von 195 aus dem Staub zu machen. Alles schon erlebt.
Ein anderes Erlebnis höchst zweideutiger Natur ist mir jüngst widerfahren. Auf den letzten Kilometern Heimweg einer bescheidenen Feierabendrunde überholt mich überraschend ein Mitstreiter. Ein natürlicher Reflex in mir will es so, dass ich unwillkürlich beschleunige, um die Situation nicht aus der Hand zu geben, ehe die Lage sondiert ist. Und was sehen meine Augen? Auf dem Trikot des Herausforderers die kecken Worte: Lutscher sind ... - das entscheidende Attribut war verdeckt durch die Falten im Trikot, aber so grußlos wie der Kerl an mir vorbeigerauscht war, habe ich keinen Zweifel daran, dass der Spruch böse enden würde. Egal wie Lutscher sind, ich bin jedenfalls nicht von dieser Sorte und begebe mich folglich sofort aus der kompromittierenden Hinterradposition, um mich neben ihm, im Abstand einer Radlänge, festzubeißen. Es gibt ja weiß Gott schon genügend Vorwürfe im richtigen Leben, die man sich gefallen lassen muss...
Irgendwann habe ich ihn überholt. Wie lange er in meinem Windschatten war, will ich gar nicht wissen.
Mit einem solchen Trikot zu fahren, muss die Hölle sein - diese Erkenntnis wurde mir aber erst später zuteil, als ich bereits schweißtriefend zuhause angekommen war. Nicht besser dran ist allerdings ein Trottel von meiner Sorte, der glaubt, so jemandem das Hobby zur Hölle machen zu müssen.
Rivalitäten sind das Salz in der außerordentlich leckeren Suppe des Radsports. Wichtigere Zutaten sind Gemeinschaft und gegenseitige Unterstützung. Die Gelegenheiten im rauen Alltag, anderen unter die Arme greifen zu können, ohne irgendeinen eigenen Nachteil in Kauf nehmen zu müssen, sind höchst selten. Im Radsport macht's der Windschatten möglich. Eigentlich eine schöne Sache.
Also, mein lieber Mitstreiter: das nächste Mal ziehst du dir was Ordentliches an, dann wechseln wir vielleicht ein paar Worte, und wenn ich feststelle, dass du ein ganz anständiger Typ bist, lege ich bei meiner nächsten Geschichte ein gutes Wort für dich ein.
Mai 2004