22. August 2011
| Strecke |
Brest, 618 Kilometer, 18.15 Uhr: Bei PBP zählen die Engländer zu den wenigen Nationen, die in der Masse kaum untergehen. Ein Gutteil von ihnen fährt ohne Helm, dafür mit Schutzblechen an Rädern, die nicht selten nostalgisch angehaucht sind. Von kurzen Schauern abgesehen, waren die Schutzbleche bislang allerdings überflüssig. Eine andere Eigenheit ist ihre Vorliebe für time trials, Zeitfahren, die mitunter vierundzwanzig Stunden andauern können. Einer aus ihrer Gilde, Simon, ein Ex-Ruderer, übernimmt nach Brest das Kommando. Setzt sich vornehin und zieht eine ganze Truppe wieder zurück über den Roc'h Trévézel - mit 384 Metern die höchste Erhebung der Bretagne. Geschätze zehn Mann hängen in seinem Rücken, und jedem von uns macht er Beine. Ich biete ihm mehrfach Ablösung an, aber nein: I'm fine, really. Wenn er seinen Rhythmus fahren kann, gehe es ihm ausgezeichnet. Er kurbelt so regelmäßig wie ein Schweizer Uhrwerk. Es ist eine Freude, ihm von hinten zuzusehen.
Carhaix-Plouger, 703 Kilometer, 21.54 Uhr: Auch ich fühle mich blendend, während wir auf Carhaix zurasen, obwohl ich bislang nicht eine Minute geschlafen habe. Ist das nicht schon besorgniserregend? Kann es sein, dass der Körper eine Nacht ohne Schlaf einfach so wegsteckt, nur mit Coffein? Und meine Kraft, warum lässt sie nicht nach? Sollte das Magnesium, das ich mit mir führe, etwa verunreinigt sein mit Dopingprodukten? Profisportlern passiert dies ständig. Ist es moralisch überhaupt vertretbar, sich nach immerhin siebenhundert Kilometern in solch prächtiger Verfassung zu befinden? Zerstöre ich am Ende den Mythos dieses altehrwürdigen Rennens? Bevor mich die Selbstzweifel übermannen, esse ich zum ersten Mal etwas Ordentliches: Nudeln mit Soße, etwas Salat und Joghurt.
Simon, der Zeitfahrer, ist überzeugt davon, dass 20 Minuten Schlaf ausreichen, damit der Körper regeneriert. Einem Mann wie ihm würde man eigentlich alles abnehmen. Dennoch beschließen Dirk und ich, zwar bis zur nächsten Verpflegungs- und Schlafstätte, St. Nicolas, weiterzufahren, dort aber anständig zu pausieren.
Ob es eine kluge Entscheidung war? In jedem Fall bringt sie mir die Nebenwirkungen von Paris-Brest-Paris wieder zu Bewusstsein: Leiden. Kaum haben wir die Kontrolle von Carhaix verlassen, setzt der Regen ein. Zögerlich im ersten Moment, dann aber so entschlossen, wie ich die Sechzig-Stunden-Marke zu pulverisieren gedenke. Regenjacken schützen vor dem Nass, das von oben kommt, gegen das Spritzwasser von unten richten sie wenig aus. Selbst englische Schutzbleche können hier nichts mehr ausrichten. Wir stecken inmitten eines echten bretonischen Gewitters. Blitze fahren rings um uns herum aus dem stockfinsteren Himmel und erleuchten die Wälder und Wiesen taghell. Plätze, wo man unterstehen könnte, sind rar. Selbst wenn es sie gäbe: PBP heißt weitermachen. Die den Radfahrern zugeordneten Götter werden schützend ihre Hand über uns halten.
Dirks Panne kommt zur passenden Zeit: mitten im Unwetter hat sich eine Schraube in seinem Schaltwerk gelöst. Es wird spannend, endlich: die PBP-Liveschaltung. Prasselnder Regen, klamme Finger, und dann im Schein der Stirnlampe irgendein verflixtes Schräubchen mit einem dafür ungeeigneten Schlüssel in ein vermaledeites Gewinde reinpfriemeln. Fünfzehn lange Minuten knien wir in den Fluten, bis die Angelegenheit erledigt ist. Aufsitzen, weiter nach St. Nicolas.
St. Nicolas ist ein Desaster. Der Schlafsaal ist überfüllt, die Schlange vor dem Gebäude reicht bis in den Regen hinaus. Im Gastrozelt halten mich die Pfützen am Boden davon ab, mich einfach hinzulegen. Ich stelle mich also erneut in die Schlange vor dem Schlafsaal. Nach zwanzig Minuten ist mir klar, dass vor dem Morgengrauen kein Platz frei sein wird. Ich finde außerhalb einen kleinen zementierten Unterstand, rolle meinen Biwaksack aus und lege mich, durchnässt wie ich bin, auf den kalten Steinboden. Es ist halb zwei. Den Wecker stelle ich auf halb vier. Dirk habe ich aus den Augen verloren.
Man kann es nicht anders sagen: hier in St. Nicolas lebt das echte PBP wieder auf. Nach zwei Stunden im fröstelnden Halbschlaf stelle ich mich an fürs Frühstück, frierend, übernächtigt. Baguette, eine Schale Kaffee. Vier Uhr ist vorbei: höchste Zeit zum Aufbruch. Dirk verlässt ohne jede Absprache kurz nach mir die die Verpflegungsstelle, und noch in der Dunkelheit stößt er zu mir vor.
Bis zur nächsten Kontrolle, Loudéac, verbleiben uns noch rund fünfzig Kilometer, genug Strecke, um im Morgengrauen den Motor wieder auf Touren zu bringen.
Loudéac, 782 Kilometer, 6.31 Uhr: Ich gönne meinem Kopf zehn Minuten Ruhe auf der Tischplatte im Verpflegungsraum und mir selbst nochmals den größten Luxus dieser Tour: eine Runde Zähneputzen. Bei alledem versäume ich den gemeinsamen Abfahrtstermin um sieben Uhr. Rollentausch: diesmal bin ich derjenige, der dem Weggefährten hinterherhetzt.
Feiner Nebel hat sich übers Land gelegt. Waren die Entgegenkommenden in der Nacht mit ihren grellen Scheinwerfern noch Teil einer betörenden Lichtorgie im Zusammenspiel mit den Blitzen, die rundum niedergingen, so macht sich im trüben Morgenlicht bei ihrem Anblick eine Melancholie breit. Es werden weniger und weniger, bis der Strom endgültig versiegt. Für die Letzten ist die Party vorüber - die Zeit sitzt ihnen wie Blei im Nacken. Sie werden sich verzweifelt abmühen, auf den ihnen verbleibenden 800 Kilometern die Kontrollen rechtzeitig zu erreichen.
Tinténiac, 867 Kilometer, 10.07 Uhr: Ich fühle mich in einem Stadium der absoluten Unverwundbarkeit. Die Beine verrichten ihren Dienst mechanisch, sie gehen ganz und gar in ihrer alleinigen Daseinsberechtigung auf: Treten. Der Geist befindet sich in einem Zustand der vollkommenen Abgeklärtheit. Die ganze Existenz kennt nur ein Ziel: Ankommen. Jeder Faser im Körper ist auf Linie gebracht.
Fougères, 921 Kilometer, 13.20 Uhr: Die Zeit läuft, die Kilometer, die sich zwei Tage zuvor wie eine Wand vor uns auftürmten, fliegen vorbei und zerrinnen im Nichts. Man kann sie nicht sammeln, nicht verwerten; sie gehören der Vergangenheit an. Wir stecken mittendrin, und doch ist auch PBP schon nicht mehr das alles überragende PBP, das über ein halbes Jahr lang seinen Schatten bei jeden Trainingskilometer vorausgeworfen hat. Es ist nur noch der verbleibende Rest - der nun, mit einem Mal, in der Wärme des frühen Nachmittags entsetzlich zäh wird.
Es sind die gefürchteten Momente der Müdigkeit, wo sich die Minuten nicht mehr in Sekunden zerlegen lassen, sondern wiederum in Minuten. Man schüttelt unvermittelt den Kopf hin und her, als wolle man erstickendes Wasser aus Mund und Nase wegschleudern, verzweifelt Oberwasser behalten, wenn die Wellen über einem zusammenbrechen und einen in die Tiefe zu reißen drohen. Man schließt bis auf einen kleinen Spalt die Augen, versucht, diesen Wahnsinn auszuhalten. Die Außenwelt beginnt zu kreisen. Ich verliere den Überblick, sehe mit einem Mal, dass unsere Gruppe dezimiert ist, frage mich, wo die Leute geblieben sind. Ich trete in die Pedale, fange mich wieder im folgenden Anstieg und folge dem Rhythmus, den mir die Beine vorgeben. Plötzlich bin ich alleine. Wo sind die anderen? In der Abfahrt dann ein plötzlicher Schmerz am Kopf. Es muss eine Wespe gewesen sein, die sich unter meinem Helm verfangen und mich gestochen hat. Als mir das zuletzt zuhause passiert war, hatte ich es nach langem Zögern gerade noch in die Arztpraxis geschafft, wo mir unverzüglich eine Infusion angehängt wurde. Von einem Moment zum anderen bin ich hellwach. Mir verbleiben fünfzehn Kilometer bis Villaine. Bis dorthin muss ich es aus eigener Kraft schaffen. Dort sollen sie mir meinetwegen eine Infusion anhängen. Ich werde die Zeit zum Schlafen nutzen.
Mein Tritt wird kräftiger, gleichzeitig versuche ich, meinen Kreislauf nicht mehr als nötig zu belasten. Eine Gratwanderung. Ruhig bleiben. Ein Gefühl von Panik kann ich jetzt nicht zulassen. Ich eile nach Villaines, der drittletzten Kontrolle. Aber nichts passiert. Keine Rötung, keine Schwellung, kein Kreislaufversagen. Ich scheine mich zum Liebling der Götter gemausert zu haben.
Villaine-la-Juhel, 1009 Kilometer, 15.57 Uhr: Erneute Missverständnisse bei der Abfahrt. Dirk bricht vor mir auf. Zusammen mit einem Schweizer, Urs, folge ich seiner Spur. Wenn die Welle, die wir erwischt haben, anhält, wird sie uns vor 4.40 Uhr heute Nacht ins Ziel spülen. Wir harmonieren wie zwei verwandte Seelen. Mortagne, die vorletzte Kontrolle fliegt uns entgegen. Keine Spur mehr von Müdigkeit in mir.
Mortagne-au-Perche, 1090 Kilometer, 19.30 Uhr: Einer der Kontrolleure befindet, ich sähe noch so frisch aus. Dies geht runter wie Öl. Im Überschwang versteige ich mich zu Behauptungen wie die, dass alles wunderbar sei. Wir kämen zurück von einem phantastischen Ausflug in die Bretagne - das Gedächtnis funktioniert nach über zwei Tagen fast ohne Schlaf nur noch im Standby-Modus. Sie werden noch viele tröstende Worte sprechen müssen. In meinem Fall bleiben sie ihnen erspart.
Wir genehmigen uns eine zweite und letzte warme Mahlzeit vor Paris, während Dirk auf uns wartet. Jetzt nur nicht die Beine erkalten lassen. Sie müssen in Bewegung bleiben, ehe die Leichenstarre einsetzt.
Die letzte Nacht bricht an. Bis Dreux sind es überwiegend flache Kilometer und der auffrischende Wind vom Atlantik schiebt uns vor sich her. Wieder scharen sich etliche Fahrer um unser Trio. Eine Hilfe sind sie nicht. Es gibt kaum Teilnehmer um uns herum, die ohne Begleitfahrzeug unterwegs sind. Man erkennt sie am fehlenden Gepäck. Fünfzehn Minuten vor dem Erreichen der Kontrolle fingern sie nach ihren Handys, um den Standort ihrer Servicemannschaft zu erfragen. Sie betrügen sich um die Hälfte des Abenteuers. Zu Paris-Brest gehört, die Fürsorglichkeit seiner Lieben auszuschlagen und wenigstens einmal im Leben sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Dreux, 1165 Kilometer, 22.49 Uhr: Die Zeit wäre gekommen, sich für die Zieleinfahrt feinzumachen. Ich beschränke mich wiederum auf die Pflege von Gesicht, Hände und Hintern. Deo führe ich ebenso wenig mit mir wie Rasierwasser. Geschadet hätte es an dieser Stelle nicht. Ich fürchte, wir muten den Kontrolleuren einiges zu.
Vor der Weiterfahrt lassen wir von unserem Trio noch ein Foto machen - als wären wir bereits im Ziel.
Hinter uns liegt die Ungewissheit, mit der man nach all den Monaten des Fieberns am Start steht; das Bangen, wenn sich die Dämmerung über die Straßen legt, die sich in einem endlosen Band irgendwo in der mondlosen Nacht verlieren. Es ist der Wille, ungebändigt, unbeschadet, der hier, 65 Kilometer vor Guyancourt, einen ersten Triumph feiert - wer sollte uns jetzt noch aufhalten?
Nichts und niemand hält uns auf. Die Welle, die uns irgendwann hinter Brest erfasst hat, trägt uns weiter, über die Hügel rund um Paris, über die letzten flachen Kilometer, um den letzten Kreisverkehr herum, über die allerletzte Transpondermatte. Nach 57 Stunden und einer Minute nach dem Start rollt sie aus. Die Zeit realisiere ich jedoch erst viel später. Stunden, Minuten, Sekunden: das ist in diesem Augenblick unwesentlich.
Ich habe wieder festen Boden unter den Füßen - das 17. Paris-Brest-Paris ist zuende. Ein merkwürdiges Gefühl - als hätte ich soeben den Zenith meines Lebens überschritten.
Strecke (gemessen): |
625 km |
Total: |
Strecke (gemessen): |
1252 km |
Höhendifferenz: |
4950 m |
Höhendifferenz: |
9900 m |
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Fahrzeit: |
unbekannt |
Gesamtzeit (brutto): |
57:01 h |
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Schnitt: |
unbekannt |
Schnitt (brutto): |
22,0 km/h |
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Gesamtzeit (Rückweg) |
32:09 h |
Platzierung: |
241 (5004) |