Die Kunst des Pfeifens

Die modernen Ahead-Set-Vorbauten haben einen großen Vorteil. Sie erleichtern die Entscheidung, ob eine Klingel an den Leichtgewichtrenner kommt, ganz erheblich: es kommt keine hin. Denn Klingeln, die sich um die wuchtigen Spacer schmiegen, sind noch nicht auf dem Markt. Und am Lenker ist sowieso kein Platz. Selbst wenn: wer hat schon den Mut, sich an dieser exponierten Stelle zu einer Glocke zu bekennen. Ich nicht.

Damit geht ein großer Nachteil einher: ohne Klingel ist es schwer, die Mitbewerber auf den Straßen und Wegen artgerecht von seinem Kommen in Kenntnis zu setzen. Wie oft schon habe ich es mit einem sonoren, freundlich vorgetragenen Vorsicht bitte! versucht. Allein, die Reaktionen waren niederschmetternd: von schlichter Ignoranz bis zum völlig entrüsteten badischen „Hesch kai Glock' am Rad, hä?“. Meistens aber beides zusammen.

Ich habe mich entschieden, mich aufs Pfeifen zu verlegen. Der flötende Pfeifton mit geschürzten Lippen klingt zurückhaltend, fast beiläufig. Er macht den Fußgänger neugierig, junge Frauen spitzen vielleicht aufgeregt die Ohren. Das ist aber nun gar nicht mein Ansinnen: ich möchte ganz seriös darauf hinweisen, dass genau in diesem Moment von hinten ein Radfahrer mit ungeheurer Geschwindigkeit auf exakt jene Menschen zurast, die ihm mit großer Selbstverständlichkeit den Weg blockieren. Wer im Übrigen schon mal versucht hat, bei hoher Atemfrequenz noch zu flöten, weiß, warum ich letztendlich von dieser Pfeifversion Abstand genommen habe.

Eine weitere Variante habe ich verworfen: zwar lässt das Pfeifen mit Daumen und Zeigefinger eine erhebliche Bandbreite an Lautstärke, Tonumfang und Charakteristik zu, aber mit nur einer Hand an der Bremse ist mir die Angelegenheit zu abenteuerlich. Schade: diese Art des Pfeifens beherrsche ich.

Im Gegensatz zur dritten, von mir bevorzugten Variante, dem Pfeifen mit gerollter Zunge. Hier bin ich noch blutiger Anfänger. Und so nutze ich die Zeit auf dem Rad oder wann immer ich mich unbeobachtet fühle, um Lippen und Zunge zu einer Einheit zu formen, welcher ein geeigneter Luftstrom Töne zu entlocken vermag, die gut hörbar, nicht zu schrill und sich lautmalerisch von einem höflich-gutturalen „u“ zum finalen „i“ bewegen. Das ist viel verlangt, aber im komplizierten Geflecht von Radfahrern, Fußgängern und Kraftfahrern scheue ich keine Mühe, zu einem besseren Miteinander beizutragen.

Noch bin ich in der Übungsphase und von der praktischen Umsetzung weit entfernt. Sollten Sie also dieser Monate einen Radfahrer bei heimlichen Pfeifübungen ertappen: Lächeln Sie ruhig. Ertönt jedoch einst in ihrem Rücken ein anmutig melodiöser, Dringlichkeit verheißender Pfiff, dann, bitte, treten Sie eilends zu Seite.
 

Dezember 2003