Triberg, 4. Juni 2006, 7:00 Uhr
Für einen Pfingstsonntag ist es verdammt kühl, der heilige Geist schläft noch und lässt einhundertvierzig verhüllte Gestalten im strömenden Regen stehen. Was sie nicht daran hindert, den schweren Weg der Felbergrunde auf sich zu nehmen: 258 Kilometer ab Triberg durch den wolkenverhangenen Südschwarzwald. Einhundertvierzig Fahrer: macht 280 Laufräder, die den Regen aufwirbeln. Schleierhafte Welt, schleierhaftes Treiben. Ob wir wirklich diese freien Wesen sind, für die wir uns halten, oder nicht doch viel mehr Getriebene? Nicht einen Moment denke ich daran, umzudrehen. Ist das normal?
Zunächst geht es rund 250 Höhenmeter bergan, das wärmt. Wir fahren ein lockeres Tempo, während sich die Nässe unmerklich über den Körper verteilt und sich in den Schuhen sammelt. Erst bei der Abfahrt von knapp 1000 Metern übers Prechtal hinunter nach Elzach spüre ich, wie die Muskulatur unter dem Einfluss der Kälte hart wird. Da hilft nur kurbeln! Ein graues Simplon Crossrad vor mir nehme ich als Orientierung. Schon vor der Abfahrt habe ich den Überblick verloren, aber mit den rund zwanzig Fahrern, die sich vor Elzach zusammenfinden, befinde ich mich für mein Gefühl in der Speerspitze. Der Regen lässt nach.
Radfreundschaften sind fragil. Unsere hat vierzig Kilometer gehalten. Nun befinden wir uns am Fuß des Kandels. Meine Blase drückt, niemand, der deswegen warten würde. Würde ich auch nicht... Die Gespräche enden hier, rhythmisches Atmen stattdessen. 900 Höhenmeter auf 12 Kilometern, ohne einen Moment der Erholung. Ich schraube mich hoch: ich kenne diesen Anstieg, bin ihn erst letzte Woche gefahren. Oben, am Verpflegungsstand, liegt mir der Kaiserstuhl zu Füßen. Ich bin an zehnter Position, heißt es. Einsetzender Nieselregen behindert meinen Sturzflug ins Tal. Ab sofort bin ich auf mich alleine gestellt.
Auf dem Weg hoch nach St. Märgen habe ich mich um zwei Fahrer vorgearbeitet. Das ging fast nebenbei. Aber nun hänge ich schutzlos im Wind, zwanzig Kilometer lang quer durchs Dreisamtal bis Oberried, wo der nächste Brocken auf mich wartet: der Notschrei. Der Asphalt ist noch feucht, aber von oben her kommt immerhin kein Nachschub mehr. Auch verkehrsmäßig herrscht Ruhe, wer setzt sich bei diesem Wetter schon so früh ins Auto? In der Kehre nach dem Steinwasenpark überhole ich einen Bianchi-Fahrer, wir grüßen uns, aber jeder fährt sein Tempo. Abzweig Hofsgrund: obwohl ich zu wissen glaube, dass die Strecke eigentlich direkt über Hofsgrund führt, vermisse ich ein Schild. So halte ich auf den Notschrei zu auf der vielleicht drei Kilometer längeren Hauptstraße, ich will mir als Kenner der Örtlichkeit keine Vorteile verschaffen. Später, auf der Passstraße bin ich etwas enttäuscht, als ich feststelle, dass andere, die ich hinter mir glaubte, sich bereits am warmen Tee laben. Da hab' ich's wohl zu gut gemeint, denn der Wegweiser, der mich nach Hofsgrund leiten sollte, ist verschollen, stellt sich später heraus. Der Bianchi-Fahrer ist mir gefolgt, ein kleiner, bitterer Trost. Ich schiebe mir schnell ein Brötchen in den Mund, zwei Fahrer passieren mich unterdessen.
Die Abfahrt über den Stohren ist ein heißes Pflaster: enge Kurven ohne Einsicht und Rollsplitt, dafür eine malerische Landschaft mit Wildbach, eigentlich zu schön, um daran vorbeizurasen. Und sofort folgt der Anstieg zum Wiedemer Eck, gleichmäßig. Vor mir sehe ich die Silhouetten der zwei Fahrer, die mich an der Verpflegung stehengelassen haben – sie werden zunehmend größer. Den Leitwolf auf seinem Cannondale habe ich direkt vor mir, als er sich am Hohtann, dem höchsten Punktnach dem Wiedemer Eck, ein Powergel einverleibt, schwer schnaufend. Die Verpackung wirft er achtlos in die Landschaft. Das gehört sich nicht. Ich beschließe in diesem Moment, den geschändeten Schwarzwald zu rächen.
In der Abfahrt bin ich chancenlos, zu perfekt nimmt er die Kurven hinunter ins Wiesental. Am Fuß des Feldberges jedoch habe ich ihn besiegt und die Ehre des Schwarzwaldes wieder hergestellt. Natürlich weiß der Arme nichts davon, und ich befinde mich alles andere als im Siegestaumel. Mit einem Mal ist aller Mumm aus den Knochen gewichen und ich habe es überdies satt, alleine durchs Gebirge zu schleichen. Oben bin ich platt. Die Kälte schlägt mir aufs Gemüt. Liebend gern würde ich auf der Direttissima nach Hause fahren, 25 km, und mich in die warme Stube setzen, aber einmal mehr will ich mir als Ortsansässiger keine Vorteile verschaffen. Während ich am Verpflegungsstand abhänge und auf den Sommer warte, trifft zu meiner Erleichterung kurz darauf ein bekanntes Gesicht ein: der Stutz, eine veritable Bergziege vom Schauinsland, mit ihm auch der Bianchi-Fahrer vom Notschrei. Zu dritt ziehen wir weiter, über Hinterzarten nach Breitnau. Irgendwann fordere ich den Bianchi-Fahrer auf, sich auch an der Führung zu beteiligen. Im Akzent eines Holländers oder Belgiers bekennt er dann, dass es bei ihm nur noch ums Überleben ginge. Ihm ist anzusehen, dass er amnächsten Berg nicht davonzieht - also geht seine Position ganz hinten in Ordnung. Ab Hammereisenbach, hoch zur Kalten Herberge, setze ich meinen Soloritt fort. Ich habe mich wieder gefangen. Im nächsten Anstieg, hoch nach Neukirch, räche ich ein letztes Mal den Schwarzwaldschänder, der an der Verpflegung am Feldberg nur kurz gebremst hat und vor mir weitergefahren ist.
Den Rest erledige ich alleine. Oder sollte ich besser sagen, der Rest erledigt mich? Ich kämpfe gegen den Wind auf dem Weg nach Vöhrenbach, gegen die letzten der insgesamt 5500 Höhenmeter hoch nach Unterkirnach, hoch nach Oberkirnach. Ich kämpfe gegen die Alleinfahrt, aber die Fahrer die ich nun auflese, sind von der kürzeren Strecke und gehen mein Tempo nicht mit, und von hinten schließt keiner auf, was wohl auch meine Schuld ist. So hänge ich irgendwo zwischen den acht oder zehn Besten, die ich zuletzt am Fuß des Kandels gesehen habe, und einer Front hinter mir, deren Ausmaß und Beschaffenheit ich nicht einzuschätzen wage. Wenn der Wind ins Gesicht bläst, bleibt bis zuletzt das Gefühl: jeden Moment kommen sie und überrollen dich. Aber sie überrollen mich nicht, und als ich nach 10 Stunden und 14 Minuten im Sattel durchs Ziel fahre, bleibt genügend Zeit, um meinen Puls runterzufahren, ehe der nächste Finisher glücklich den Zielstrich überquert. Es ist der Schwarzwaldschänder. Der Schwarzwald und ich haben also gewonnen.
Wenig später kommt der Stutz ins Ziel und ich denke, wäre schön gewesen mit ihm durchs Ziel zu fahren, aber soviel Heimatliebe muss eben sein.
Strecke |
263 km |
Höhenmeter |
5500 |
Start |
ca. 7 Uhr |
Zieleinfahrt |
ca. 17.40 Uhr |
Reine Fahrzeit |
10:14 h |
Schnitt |
25,7 km/h |
Maximale Steigung |
19 % |