ARA Breisgau: 400 Kilometer Kirchzarten, 18. Mai 2013, 8 Uhr - Pfingstsamstag
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Wer sich der Welt der Randonneure annähern möchte, findet dazu allerhand Hinweise und Berichte im Netz, und selbst der Kenner der Materie stößt dort immer wieder auf Neues zum Thema Langstrecke auf zwei Rädern. Was jedoch eindeutig zu kurz kommt, ist die spirituelle Dimension unserer Leidenschaft. Natürlich kann man von keinem von uns mehr als theologisches Basiswissen verlangen, schließlich verwenden wir ja doch sehr viel Zeit aufs Training, was unter anderem dem sonntäglichen Kirchgang nicht gerade zuträglich ist. Und - seien wir ehrlich - Landkarten sind nicht nur bunter, sondern auch leichter zu handhaben als Bibeltexte. Es braucht also schon ganz besondere Anlässe, um das Spektrum über die befahrenen Landschaften hinaus zu erweitern und ein paar Überlegungen zum spirituellen Kontext anzustellen.
Als zu Beginn unserer Zeitrechnung an Pfingsten Feuerzungen auf die Jüngerschar niedergingen, um sie mit Geist zu erfüllen, gab es für sie kein Halten mehr. Den Berichten zufolge zogen die Männer hinaus in die Welt, um die Botschaft von der Ankunft des heiligen Geistes allen zu verkünden. Wir können sie, mit gewisser Zurückhaltung, versteht sich, als Vorläufer der heutigen Randonneursbewegung in Ehren halten. Ihre Botschaft ist mittlerweile in weiten Kreisen verbreitet, für missionarischen Eifer besteht also kein Anlass mehr. Trotzdem wollen wir gerne, gerade wenn wir in den Pfingsttagen losziehen, der einstigen Ereignisse gedenken und uns einmal mehr klar machen, dass der Mensch ohne seinen Geist ein armes Wesen wäre - da sind wir uns mit den Theologen dieser Welt einig. Jeder einzelne von uns würde nichts anderes tun, als nacktschneckengleich seinen dringlichsten Bedürfnissen nachgehen, allem voran das Fressen. Niemals kämen ohne die Segnungen des heiligen Geistes siebzig Leute dazu, sich am Pfingstsamstag erwartungsvoll zu versammeln, um gemeinsam, in mühevoller Kleinarbeit und ohne Aussicht auf finanzielle Vorteile, Gegenden zu bereisen in der alleinigen Absicht, ihren Horizont zu erweitern.
Für den modernen Menschen ist es nicht leicht nachzuvollziehen, welch umwerfendes Spektakel sich einst zu Pfingsten abgespielt hat. Es muss in etwa so gewesen sein, als quäle man sich mit seinem Rad ein halbes Jahr durch winterlich öde Regen- und Schneelandschaften, und plötzlich - nach vielmonatiger Abwesenheit - bricht die Sonne durch die Wolken und die bis dahin nahezu farblose Botanik erstrahlt in satten, leuchtenden, überwältigenden Farben. Jeder spürt mit einem Mal, dass es über das Grau des Alltags hinaus noch ein anderes Leben gibt, das uns von unserem niederen Schneckendasein erlöst. Und wenn also am Pfingstsamstag anno domini 2013, nach dem unter meteorologischen Gesichtspunkten schlimmsten Frühjahr seit Menschengedenken, all dies eintrifft; wenn sich inmitten dieser farbenfrohen Natur unter gleißender Sonne auf einem Sträßchen, das sich hinter den ersten Vororten Freiburgs in steilen Serpentinen hochwindet bis zu einer Kuppe, für die mit dem Namen Geiersnest eine treffende Bezeichnung gefunden wurde, siebzig Radfahrer keuchend, aber beseelt himmelwärts arbeiten; wenn diese, oben angekommen, ihre Brevetkarte lochen und im Zauber der Bergwelt von Schwarzwald und Vogesen in unendlichem Verzücken verharren: dann, ja dann ist ein solches Pfingstwunder eingetroffen.
Auch für ein Wunder braucht es, wie bei fast allen wichtigen Dingen im Leben, immer zwei: den einen, der aus Wasser Wein macht, und den anderen, der ihn trinkt. In mir haben die Himmlischen einen gefunden, der - um im Bild zu bleiben - den Becher willig leert. Was für ein Vergnügen, sich an jedem Kurbelschwung inmitten des jungen Grüns der Weiden und Wälder zu berauschen wie an neuem Wein; was für ein Genuss, die Verheißungen, die von all den kleinen asphaltierten Wegen zwischen den verschiedensten Flusstälern der Vogesen ausgehen, zu verkosten wie ausgesuchten Bordeaux! Man mag am Col d'Amic oder am Col du Hundrück seine Körner lassen und sich überlegen, ob das straffe Tempo einer Tour diesen
Ausmaßes angemessen ist, aber nicht einen Wimpernschlag lang stelle ich mir die Frage, warum jemand wie ich dem Wunder der Welt ausgerechnet auf der Langstrecke nachstellt. Diese Unbeirrbarkeit im Tun: eigentlich ist sie ja, seit die Menschheit den unheilvollen Versuch unternommen hat, ihren Verstand zu benutzen, das Privileg weniger Auserwählter und etlicher Dummköpfe. Weder mit den einen noch mit den anderen verbindet mich eine besondere Seelenverwandtschaft. Ich neige deswegen zur Annahme, dass der Grund für meinen außergewöhnlichen Geisteszustand im Umfeld des Pfingstwunders zu verorten ist.
Sonne, oh Sonne! Sie ist es, mit der die Himmlischen diese Welt, die bis gestern noch in schalem Regenwasser eingelegt war, heute verzaubern. Hinter den Schleierwolken, die westlich der Vogesen aufziehen, strahlt sie wie feiner elsässischer Edelzwicker, jenseits des Landes der Tausend Seen, le Plateau des mille étangs, nimmt sie die Farben eines Pinot Gris an. Nach Gérardmer hinunter leuchtet sie in den Bernsteinfarben eines intensiven Rivesaltes, der sich noch vor dem Aufstiegs zum Col de Louchbach zunehmend in einen kräftigen Rosé verfärbt. Als wir oben auf dem Col de Bonhomme eintreffen, glühen nur noch die Sterne über uns - ein kleiner, glitzernder Gruß aus den Fernen anderer Welten. Wo auch immer die Himmlischen in ihren Zaubertöpfen rühren mögen - von Zeit zu Zeit leisten sie wundervolle Arbeit. Vor zweitausend Jahren waren es die Feuerzungen, heute ein umwerfendes Landschaftsallerlei im Glanz der Sonne, was sie uns dargeboten haben. Wenn dann tags darauf wieder gepfuscht wird und das Murkswetter - kaum dass die Letzten im Ziel sind - aufs Neue einsetzt, wollen wir gerne ein Auge zudrücken. Nobody's perfect.
Strecke: |
401 km |
Höhendifferenz: |
4570 hm |
Fahrzeit: |
15:06 h |
Schnitt: |
26,5 km/h |
Gesamtzeit |
17:30 h |