Freitag, 1. April 2011
| Strecke |
Nennen wir es einen glanzvollen Tag - strahlend wäre angesichts der Ereignisse in Fukushima nicht das richtige Wort. Ein glanzvoller Tag also erwacht in dieser friedlichen Ecke der westlichen Welt. In Bédoin zeigt sich noch ein Frankreich, das woanders im Aussterben begriffen ist. Hierhin zieht es Radfahrer aller Couleur, wenn sie unter ihresgleichen sein wollen. In großen Teilen des Hexagons haben sie nur noch eine vorwiegend folkloristische Funktion - die Franzosen sind höchstens noch vor dem Bildschirm eine Radfahrernation. Allenfalls sonntags sieht man die alten Veteranen auf ihre Stahlräder steigen, um mit einem gewissen Trotz in die Pedale zu treten. Es ist symptomatisch für die Krankheit dieses Volkes. Der Kapitalismus hat sie kalt erwischt. Sie kranken an ihrem Hang zu lächerlichen Statussymbolen: Autos, Jagdbomber oder Atomkraftwerke. Sie rennen Sturm gegen die Mächtigen und ergeben sich fortwährend ganz dem von ihren Eliten propagierten Daseinszweck: dem Konsum. Die Kredite werden ihnen hinterhergeschmissen. Sie lieben ihr Land und zerstören es.
Hoch lebe Bédoin! Hier gibt es eine Bäckerei, die das beste fabriziert, was man sich an Backwaren überhaupt vorstellen kann. Vor den Cafés stehen schon am frühen Morgen blitzende Rennräder in der Sonne. Wir wollen davon ausgehen, dass sie nicht auf Raten gekauft sind. Vitale Körper, berstend vor Spannkraft, sitzen auf den geflochtenen Stühlen. Sie können es kaum erwarten, mit ihren schmalen Pneus in den Himmel zu jagen. Sie saugen die frische Morgenluft ein, als wäre es das köstlichste Parfum dieser Erde. Und endlich schwingen sie sich auf ihre Räder und schießen lautlos auf die D 974 gen Osten, dort wo die 10-Prozenter ihrer auflauern. Falls sie am Vorabend in einem dieser Cafés Weingläser ausgeliehen haben, bringen sie diese selbstredend vorher zurück. Hier kann man sich auf die Menschen verlassen.
Noch ist die Zahl der Himmelsstürmer bescheiden. Wir sind sogar fast die ersten, obwohl wir viel länger geschlafen haben als vorgesehen. Seit heute sind wir im Urlaub. Zwei lange Stunden dauert der Aufstieg. Nie habe ich den Mont Ventoux in einer so perfekten Stimmung erlebt wie heute. Fast kein Verkehr, wolkenloser Himmel, morgendliche Kühle, letzte Schneereste vom Winter. Die Schranke nach dem Chalet Reynard ist noch geschlossen. Wir Radfahrer sind ganz unter uns, von zwei Wandersleuten einmal abgesehen. Die offene Flanke des Berges ist windstill. Ich wusste nicht, dass es das je geben würde.
Wir passieren das Tom-Simpson-Denkmal, der hier nach einem gepfefferten Cocktail von Amphetaminen und Heroin während der Tour de France röchelnd vom Rad gefallen ist und unter Zurücklassung seiner sterblichen Hülle allein mit seinem Geist weitergeflogen ist. Mir fällt mein Knie ein. Es ist schmerzfrei. Vielleicht hat Tom Simpson ja auch mal ganz harmlos mit Diclofenac und Ibuprofen angefangen. Bei Gelegenheit werde ich ihm was Nettes auf den Stein legen. Nun will ich aber durch die Windstille gleiten, meinen Atem rasseln hören und fühlen, wie meine Muskulatur brennt.
Der Blick oben belohnt uns für alle Mühsal, die wir in den letzten Tagen über uns ergehen ließen. Nach Nordosten hin blinken die Alpen in majestätischem Weiß, im Norden leuchtet das Vercors, nach Süden hin verlieren sich die letzten Gebirgsausläufer, ehe das Land im Mittelmeer versinkt.
Hier oben ist unsere Tour zuende. Das Herz fühlt sich leicht an. So leicht wie auf einem Energiekissen, das durchs Universum schwebt.
Wieder im Tal lassen wir uns noch einige Stunden in der heißen Frühlingssonne brutzeln, ehe wir am Nachmittag unseren Zeltplatz räumen und Bédoin den Rücken kehren. Unser Zug geht kurz nach Mitternacht in Avignon, 65 Kilometer entfernt.
Wir streifen die vielbesungene Brücke; verlassen liegt sie im Abendlicht. Wir setzen uns an den Rhône und sehen den Franzosen zu, wie sie Ihr herrliches Land zur Strecke bringen. Vierspurig jagen sie mit viel Getöse auf dem Ring um die Altstadt, kurzatmig wie Tom Simpson auf den letzen Metern seines irdischen Wandelns. Sie holen ihre täglichen Dopingdosen in den Apotheken, an Geldautomaten, an Zapfsäulen. Es wird böse enden. Hauptsache, es endet überhaupt.
Wir schlendern durch die Altstadt, werfen einen Blick auf den mächtigen Papstpalast. Im Zeitraum von Jahrtausenden bedeutet die Regentschaft des Gegenpapstes nicht mehr als ein Wimpernschlag. Über allem thront der Mont Ventoux, jetzt wie damals, als die Menschheit den aufrechten Gang erlernte - auch wenn die Dunkelheit ihn nun verhüllt.
Strecke: |
107 km |
Zeit: |
6:12 h |
Schnitt: |
17,3 km/h |
Höhendifferenz: |
1739 Hm |