Radfahren in Neapel

In Neapel wird nicht Rad gefahren, vielmehr, um genau zu sein, fast nicht. In den Stunden, die wir in Neapel verbracht haben, habe ich weniger als zehn Radfahrer gezählt, einer davon war allem Anschein nach ein deutscher oder holländischer Reiseradler, der sich hierher verirrt hatte. Statt dessen gibt es macchine, Autos. Wie Krebsgeschwüre metastasieren sie überall: ausgehend von den großen, vierspurigen Straßen, die nicht selten nach Gusto auf fünf oder sechs Spuren erweitert werden, weil sich der Neapolitaner auf diese Weise ein schnelleres Fortkommen erhofft, drängen sie bis in die kleinsten Gassen vor. Besonders sind sie natürlich auf den schmalen Gehwegen anzutreffen. Es gibt im Zentrum Neapels wahrscheinlich keinen Bürgersteig – ein Ausdruck, der hier vollkommen fehl am Platz ist – der nicht komplett zugeparkt wäre. Wir haben es erlebt, dass ein automobilista mit seinem verbeulten Fiat Panda quer zu unseren Füßen mit leidenschaftlichem Schwung direkt vor unserer Nase zum vor ihm parkenden Fahrzeug aufschloss, so dass jedes Durchkommen unmöglich war. Auf unseren vorsichtigen Protest hin setzte er sein Auto um fünfzehn Zentimeter zurück, um uns ein Durchzwängen zu ermöglichen. Danach schloss er die Lücke wieder akkurat. Ich vermute, er hielt uns für ziemlich unverschämte Touristen.

Neben den macchine gibt es die Vespas. Sie heulen mit viel Getöse durch die gepflasterten Gassen. Insbesondere jüngere Männer scheinen mit dem Gasgriff der Zweiräder in einer engen erotischen Verbindung zu stehen, was sie ohne jede Scheu der Öffentlichkeit kundtun. Der fußläufige Teil dieser neapolitanischen Öffentlichkeit nimmt das gelassen zur Kenntnis und weicht stilvoll und ohne erkennbare Eile zur Seite hin aus, unbeeindruckt vom allgegenwärtigen Gehupe. Überhaupt das Hupen: in Neapel ist es mit großem Abstand – noch weit vor dem Mobiltelefon – das wichtigste Kommunikationsmittel. Es hat den Vorteil, dass man trotz des ungeheuren Lärms auch über Dutzende von Metern in größter Vielfalt miteinander kommunizieren kann. Es kann alles heißen: von wüster Beschimpfung bis zum freundlichsten Ciao bellissima!, vom dezenten Mahnen bis zum neugierigen Salve, Mario, was zum Teufel treibst du denn hier? Nur der Eingeweihte versteht die feinen Nuancen dieser Sprache; der Tourist hält sie in seiner Plumpheit fälschlicherweise für die Ausdrucksweise einer primitiven Spezies. Ihm werden sich die Geheimnisse Neapels niemals erschließen.

Vielleicht liegt hier der wirkliche Grund für den auffälligen Mangel an Radfahrern in Neapel. Sie sind von der Kommunikation ganz und gar ausgeschlossen, ihr Klingeln, so sie denn je klingeln würden, klänge geradezu lächerlich im Gebrüll des Stadtverkehrs. In den wenigen Stunden, in denen wir die Straßen Neapels erkundet haben, bin ich zur unerschütterlichen Erkenntnis gelangt, dass die Einwohner dieser Stadt nicht Auto fahren, weil sie irgendwohin wollen – in diesem Fall würden sie wohl tatsächlich Rad fahren –, sondern weil sie miteinander in diesen feurigen Austausch treten wollen, der die Südländer auszeichnet. Wir durften Zeuge werden, wie ein Krankenwagen mit aufheulenden Sirenen auf dem Corso Giuseppe Garibaldi vor dem Bahnhof im Stau stand. In der nachmittäglichen Stunde schwoll das Hupkonzert auf ein geradezu symphonisches Ausmaß an, das an Grandiosität kaum zu überbieten war, und fast jeder war Teil dieser Symphonie. Dem Rettungsfahrzeug war damit nicht geholfen, aber dies war auch nicht im Geringsten beabsichtigt. Worauf es allem Anschein nach ankam, war die gemeinsame Performance als solche.

Wir selbst haben unsere Räder übrigens geschoben, weil wir zwei Stunden Zeit hatten, um vom Hafen zu unserem B&B in Bahnhofsnähe zu gelangen, was man mit dem Rad in fünf Minuten hätte erledigen können. Im Nachhinein erwies sich dies als Fehler. Stattdessen hätten wir polternd, klingelnd, gestikulierend und lautstark salutierend, mit quietschenden Bremsen und Attenzione-Rufen durch die Gassen und Straßen jagen sollen, um – wenngleich mit unzulänglichen Mitteln – wenigstens ansatzweise am Seelenleben dieser Stadt teilzuhaben und kurzlebige Freundschaften zu schließen. Das haben wir verpasst.

Das Traurige an diesem Umstand ist, dass unser Verständnis für die neapolitanischen Gepflogenheiten mit jedem Meter, den wir unsere Räder durch die verwinkelte Altstadt schoben, nachließ, so dass wir schließlich, verständnislos und gleichzeitig unverstanden, wie zwei Aussätzige vor dem vergitterten Eingang unseres B&B standen. Die Motorroller ballerten durch die Gasse und aus den offenen Türen der benachbarten Tanzschule drang schrecklich laute Musik. Dann erspähte der Fahrer eines Lieferwagens den freien Platz vor unserem Eingang und schob uns mit entschuldigendem Lächeln gegen die Wand. Seither – und das ist fast genauso traurig – phantasiere ich von einem Sprengkommando, das alle macchine in die Luft jagt, unabhängig von Größe und Ansehen.

Vielleicht übernimmt diese Aufgabe aber auch in Kürze der benachbarte Vesuv. Vulkanologen sind sich sicher, dass er in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten diese Stadt in Schutt und Asche legen wird. Danach, so hoffe ich, werden die Teilnehmer der Critical Mass Neapel übernehmen, weil ihr Klingeln in der dann herrschenden Stille endlich hörbar sein wird. Es wäre ein Grund, nach Neapel zurückzukehren und mit einer Glocke am Lenker die neue Sprache Neapels zu erlernen.

November 2019