Wallfahrt ins Bayrische

Voralpen-Brevet, 600 Kilometer     6. Juni 2020


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Wallfahrtskirche im VoralpenlandIn Zeiten von Corona ist alles anders. Anders als in gewöhnlichen Jahren, führen die  nächtlichen Streifzüge des Randonneurs aus dem Breisgau ihn nicht durch die entlegenen Gebiete des französischen Jura. In diesem Jahr lenkt er sein Rad Richtung Osten, ins Bayrische, wo die Wallfahrtskirchen wie geistliche Wegweiser auf den Hügeln thronen. Nicht dass sich der Randonneur im allgemeinen groß auf Religion verstehen würde, aber statt ins libertäre Frankreich ins gottesfürchtige bayrische Voralpenland zu fahren – und sei es nur, um drohenden Strafen an der deutsch-französischen Grenze zu entgehen – kann in diesen Zeiten nicht zu seinem Schaden sein.

Hier wie dort lässt er sich zu fortgeschrittener Stunde leiten von seinem untrüglichen Blick für alle sich bietenden Schlafgelegenheiten, sofern sie seiner Natur entsprechen. Er bettet sein müdes Haupt auf den wärmenden Teppich in den Foyers der Bankfilialen, von deren heller Beleuchtung er sich angezogen fühlt wie Motten vom Licht. Er schläft in Bushaltestellen jedweder Art oder lieber noch in einem dieser Waschhäuser, wie sie auch im Jura nicht selten anzutreffen sind. Auch manche Kirchenportale bieten vorzügliche Schlafgelegenheiten neben den Sockeln ihrer steinernen Säulen. Gewieft wie er ist, ahnt er aber auch mit einer gewissen Vorfreude, dass er in frommen Gegenden wie dem Voralpenland wohl auch hie und da in einer Kapelle Unterschlupf finden wird für ein paar Stunden. Die Schutzheiligen würden ihm zur Seite stehen – sind sie nicht stets mit den Beladenen und Schwachen? – und selbst der Gemeindepfarrer würde wohl beide Auge zudrücken, wüsste er von der Not des späten Gastes.

Unter diesen Gegebenheiten und angesichts der Tatsache, dass wir zu Mitternacht just unsere dreihundert Kilometer Tagespensum absolviert haben, ist es keine Frage, dass die winzige Kapelle, die am Ende einer rau asphaltierten, steilen Rampe auf uns wartet wie die Mutter auf ihre verlorenen Kinder, nach Einkehr verlangt – obwohl ich mir in diesem Moment noch nicht vorstellen kann, wie in diesem Gehäuse drei Männer Platz finden sollen, ohne sich gegenseitig bei unbotmäßigen Bewegungen die Rippen zu brechen.

Allein schon der Umstand, dass im selben Augenblick, da wir die Räder hinter der Kapelle abstellen und uns andächtig zu Füßen des schlichten Altars niederlassen, draußen der Regen einsetzt, ist wie ein Zeichen des Allmächtigen, dass er unseren Plan mit Wohlwollen unterstützt. Auch ist es wohl allein seiner gütigen Hand zuzuschreiben, dass drei Männer liegenderweise Platz finden in diesem engen Gemäuer – rein physikalisch gesehen ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Es muss im Verborgenen bleiben, wie wir zu dieser Ehre kommen. Aber vielleicht ist uns gelungen, wovon jeder Pilger und jeder Wallfahrer träumt: den Herrgott mit dem Geleisteten zu beeindrucken und ihn im Gegenzug zu einer Gefälligkeit zu bewegen. Die Tür lassen wir vorsichtshalber einen Spalt auf, um die anwesenden Heiligen mit unseren strengen Gerüchen nicht zu vergraulen. Dann blasen wir die Kerzen aus. Meine Ohrstöpsel habe ich vergessen, was mich im Laufe der nächsten Stunden sehr bekümmern wird.

Bis hierhin, das darf man unumwunden sagen, lief die Tour wie geschmiert. Wäre es nach dem Resümee des jüngeren meiner zwei Mitstreiter gegangen, der zu Beginn der Fahrt unter dem coronagrauen Himmel mitten im Schwarzwald das Ergebnis seiner Wetterrecherchen zum Besten gab („Im Durchschnitt der Prognosen regnet es von Freiburg bis ins Allgäu“), wäre es in der Kapelle ein Husten, Schneuzen und Schniefen gewesen, dass es dem Teufel graust, wie man in dieser Gegend zu sagen pflegt. So aber hält mich lediglich das Geräusch zweier schnarchenden Männer vom Schlaf ab. Später beginne ich zu frösteln, aber aus Furcht vor tumultartigen Zuständen, sobald ich mich bewege, wage ich nicht, mir wärmere Klamotten anzuziehen. Morgens um halb fünf sind meine Füße immer noch so unterkühlt wie beim Zubettgehen. Es sind die Momente, wo man sich mehr religiöses Feuer wünscht.

im SchwarzwaldIn Pandemiezeiten muss man sich genau überlegen, mit wem man social distancing zu pflegen gedenkt. Meine zwei Begleiter, beide aus Nordrhein-Westfalen angereist, schienen mir seriös und unaufdringlich und damit die geeigneten Partner zu sein für dieses ganz und gar inoffizielle Voralpen-Brevet, das im kleinen Kreise als Ersatz für das ausgefallene Breisgauer Jura-Brevet gehandelt wurde. Einer Ansteckungsgefahr durch das neuartige Virus würden wir wirksam begegnen. Aber ganz ohne Gottvertrauen geht es nun mal nicht, jedenfalls nicht beim Betreten einer winzigen Kapelle.

Ansonsten – das sei rückblickend erwähnt – verlieren wir uns schon recht bald nach dem Start im Freiburger Umland aus den Augen. In Geisingen, nach siebzig Kilometern, besorge ich mir im ortsansässigen Supermarkt das vergessene Zahnputzzeug und danach weiß ich nicht mehr, ob die beiden vor oder hinter mir sind. Wie auch immer: hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich mir auch Ohrstöpsel besorgt. Aber wie jeder Virologe bestätigen kann, hat körperliche Hygiene unbedingten Vorrang. Wobei mir einfällt, dass ich auch Seife hätte einkaufen können.

auf dem HöchstenUm es mit dem Wetter kurz zu machen: wir haben am ersten Tag angesichts der Vorhersagen erstaunliches Glück bis zu dem Moment, wo die Kapelle vor uns auftaucht. Nicht zuletzt der Wind – das wäre noch hinzuzufügen – ist uns auf dem Weg nach Osten gnädig und bläst von hinten. Es ist, als wolle uns eine wohlgesonnene Macht direkt ins gelobte Land geleiten. Als ich auf dem Höchsten, noch im Oberschwäbischen, von der Aussichtsplattform den Blick über den Bodensee und die Alpen schweifen lasse, blitzt sogar die Sonne durch. Ich bin entzückt. Zu diesem Hochgefühl trägt auch bei, dass ich meine zwei Mitstreiter just vor mir vom Besucherparkplatz auf die Straße einbiegen sehe, nachdem ich die letzten Stunden zwar mit Zahnbürste aber ohne die beiden zugebracht habe, und ich somit versichert sein kann, nicht der einzige auf der Strecke zu sein. Und der Umstand, dass die Hälfte des Hinwegs geschafft ist.

Es stellt sich heraus, dass wir nicht die einzigen auf dem Weg ins Voralpenland sind, aber die gemeinsame Sache mit einem weiteren Randonneur ist schneller beendet als gedacht. Vor dem Supermarkt in Geisingen, geplagt von einem Platten, heißt er mich, alleine weiterzufahren. Er habe sich eines Besseren besonnen und werde sein Rad nach der Reparatur umgehend zurück nach Freiburg steuern. Er traue dem Wette nicht, so sagt er. Und überhaupt.

die KapelleEs ist nicht die Zeit der großen Abenteuer. Der Lockruf der Straße ist nicht frei von Missklängen –  verriegelte Cafés, Mundschutz, Kontaktverbot. Und zudem keine Homologation. Die großen Schlachten werden an der Virenfront geschlagen. Diese führt hoffentlich nicht mitten durch unsere Kapelle.

Um fünf Uhr morgens, nach dem ersten Einsatz meiner neuen Zahnbürste, fällt unser Übernachtungsobulus klimpernd in den Opferstock und wir ziehen die hölzerne Tür wieder hinter uns zu. Man möchte eine Kniebeuge machen vor Dankbarkeit. Ich würde die Kapelle ohne Vorbehalte zu einem der bedeutendsten Wallfahrtsorte Bayerns ernennen.

auf dem Weg nach BuchloeAllmählich entwickeln sich die saftigen Weiden und die schmalen, ausgestorbenen Landstraßen unter unseren Augen wie einst die Schwarzweißfotos im Entwicklerbad, und mehr und mehr Farbtupfer treten hervor. Im Grau dieses Morgens begrüßt sie das Auge mit Freude. Die nächtlichen Niederschläge haben wieder nachgelassen, aber die schweren Wolken im Westen verheißen nichts Gutes.

nach dem FrühstückZweieinhalb Stunden später gibt es ein vollkommen profanes Frühstück in einem Autohof bei Bad Wörishofen. An Wein und Hostien ist natürlich nicht im Entferntesten zu denken. Der Verzehr im Inneren ist aus hygienischen Gründen untersagt, so stehen wir mit Gebäck und Heißgetränk in der Eingangshalle, fröstelnd, aber dankbar für diesen trockenen, wenngleich zugigen Ort, während es draußen seit geraumer Zeit Bindfäden regnet. Ein Tag, der viel besser in die Corona-Zeit passt als all die trügerischen, heißen Frühsommertage im März und April.

Der Rückweg in Richtung Memmingen wird flacher, der Wind hat von West nach Nordwest gedreht, ein winziges Entgegenkommen von oben, trotz allem. Der Rest ist eine kleine, aber erbarmungslose Regenschlacht entlang der frisch gemähten Wiesen und tropfenden Wälder. Das Wasser spritzt mir um die Ohren, und es dauert nicht lange, bis die Füße, trotz der Regenkombi durchweicht sind. All das war vorhergesagt und keiner möchte sich darüber beklagen: drei Wallfahrer auf Rädern und voller Demut nach dieser Nacht unter dem Schutz der Kirchenmauern.

Nicht anders als beim Hinweg, ist es auch heute nicht einfach, offene Bäckereien zu finden. In Bayern wird am Tag des Herrn ganz offensichtlich gebetet und nicht geschachert. Zu Mittag finden wir ein Lokal am Schwaigfurter Weier – gut bürgerlich eingerichtet – und eine Speisekarte ohne Experimente. Wir hinterlassen unsere Kontaktdaten für den Fall eines infektiösen Geschehens an diesem abgelegenen Idyll und umgehend werden uns Gemüse, Pommes und Salat serviert.

Es sind vorwiegend kleine Straßen, die uns nach Herbertingen führen, wo wir den ersten Kontakt zur B311 aufnehmen – ein Kontakt, der uns für eine gute Weile erhalten bleiben wird, nicht zu unserem Vergnügen. Immerhin sind hier die Straßen wieder trocken. Eine Stunde noch zuckeln wir auf Radwegen und Nebenstraßen links und rechts des regen Sonntagsverkehrs, ab Meßkirch ist dann jedoch Schluss mit der Schonzeit und uns bleibt nur das bundeseigene Asphaltband Nummer 311 als Grundlage für unserem Weg zurück ins Breisgau. Aber auch diese Straße mit all ihren Mängeln müssen wir zu Gottes unergründichen Wegen hinzuzählen.

Verkehrstechnischer Höhepunkt ist Tuttlingen. Wir geraten auf die B523, die man a priori nicht für gemeingefährlich halten möchte. Als solche entpuppt sie sich allerdings vom ersten Augenblick an. Alles, was vier Räder hat, scheint Tuttlingen zu fliehen, um auf schnellstem Wege zur Autobahn zu gelangen, als ginge in der Stadt der Leibhaftige selbst mit seinem virenverseuchten Pesthauch um. Auch uns bleibt nur die Flucht nach vorn, bis nach vier Kilometern endlich die erlösende Abzweigung auftaucht. Mögen unsere Zeitgenossen auf der Autobahn ihr Glück finden und Tod und Verderben hinter sich lassen.

Auch das Glück des Radfahrers stellt sich wieder ein, unterbrochen von einem launischen Limousinenlenker, der meinen Kollegen allzu schnell und allzu knapp überholt. Mit einer unbedachten, aber bedeutungsvollen Geste wird er umgehend auf sein Fehlverhalten hingewiesen, was er, wie zu befürchten war, persönlich nimmt. Wer die Nacht in einem Gotteshaus verbringt, sollte eigentlich einem armen Sünder gegenüber Nachsicht walten lassen, das muss man zugeben. Das Quietschen der Reifen bei seinem unverzüglichen Bremsmanöver hört sich bedrohlich an. Bis unser Dreiergespann ihn jedoch erreicht hat, scheint er den Einflüsterungen seiner Beifahrerin oder vom Herrgott selbst Folge zu leisten und gibt mit aufheulendem Motor Gas. Auf diese Weise wird ihm wahrscheinlich noch jahrelang verborgen bleiben, dass der Mindestabstand beim Überholen von Rädern seit Jüngstem zwei Meter beträgt. Dafür bringen wir unsere kompletten Zahnreihen wieder nach Hause.

Wer von uns dreien geglaubt hat, die letzten achtzig Kilometer wären ein Kinderspiel, hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Straße schlängelt sich in einem schier unfassbaren Auf und Ab über Bad Dürrheim und Tannheim durch die abendliche Baar. Das lilafarbene Licht allerdings ist märchenhaft und mildert etwas die Verzweiflung, die sich angesichts dieser nicht enden wollenden Hügelanreihungen einzustellen droht.

Zwei Stunden später stehen wir auf dem Thurner, zu unseren Füßen liegt das Breisgau und über uns treiben düstere Wolkenbänke ihr entzückendes Spiel mit dem leuchtenden Feuer des letzten Tageslichts. Unter uns mag die Welt im Coronasumpf versinken. Ich stehe hier oben und wünschte nur, ich könnte diesen erhebenden Moment festhalten für die düsteren Wochen und Monate, die vor uns liegen. Aber wer weiß: vielleicht haben wir mit unserer gottgefälligen Wallfahrt ins Bayrische den entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass dem Virus von höchster Stelle Einhalt geboten wird. Das wäre immerhin ein anständiger Ersatz für die fehlende Homologation.

Strecke:

600 km

Höhendifferenz:

 6400 m

Schnitt (brutto):

15,8 km/h

Gesamtzeit

37:50 h