ARA Breisgau: 600 Kilometer Kirchzarten, 1. Juni 2013, 8 Uhr
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Das Brett, auf dem ich mich rücklings ausgestreckt habe, misst ungefähr zwei Handbreit, und allzu sehr darf ich mich nicht bewegen, um nicht runterzurollen. Erstes Tageslicht schimmert milchglasfarben durch den Frühnebel. Allein in dieser einsamen Bushaltestelle nehme ich all das nur am Rande wahr, die Augen sind geschlossen. Eben habe ich mir von einem Kollegen noch ein entzündungshemmendes Medikament erbeten - der Rückgriff auf die Trickkiste der Pharmaindustrie scheint mir die einzige Möglichkeit, um diesem Niemandsland per Rad zu entrinnen. Und nun balanciere ich, eingehüllt in Fleecedecke und Biwaksack, auf der viel zu schmalen Sitzbank in der Hoffnung, dass die Tablette wirkt. Ich dämmere vor mich hin und genieße diese Schwerelosigkeit im Grenzbereich von Wirklichkeit und Traum. Oder wäre Alptraum die bessere Wortwahl?
Wie das Machwerk aus einer experimentellen Videowerkstatt wirken die Szenen in der Rückschau: der Start im strömenden Regen, keine zweiundzwanzig Stunden sind seither vergangen. Von über achzig Gemeldeten besteigen keine vierzig ihre Räder. Eine Stunde später: Kälte und Nebel auf dem Schauinsland, ein Szenario wie in den Hochalpen beim plötzlichen Wetterumschwung. Der Beginn eines 600-Kilometer-Brevets schien mir noch nie so herausfordernd. Der reißende Stohrenbach entlang der rutschigen Spitzkehren hinunter ins Münstertal. Feines Nieseln in der Rheinebene. Besserung wird vorhergesagt für den Abschnitt jenseits des Rheins: ich will dieser Vorhersage nur zu gerne glauben. Alles wird irgendwann besser... es kann ja auch kaum noch schlimmer werden. Zu acht ziehen wir durchs Sundgau: Tristesse links und rechts des rauen Asphalts.
Die Tatsache, dass die Erde vorwiegend aus Wasser besteht, wird uns heute auf eindringliche Art vor Augen geführt: die Luft ist nichts anderes als stark verdünnter Regen, die Böden sind vollgesogen, Sturzbäche zerschneiden die Landschaft. Und dazwischen diese Verrückten, die sich vorgenommen haben, trotz übelster Wetterprognosen ihre Sache durchzuziehen.
Wir schaffen es nach St. Ursanne über den schweren Col de la Croix. Den Stempel für die Brevetkarte gibt es im Touristik-Büro. "Ist das ein Spiel?", fragt die ahnungslose Schöne an der Rezeption, während sie die Karten aus unseren klammen Händen entgegennimmt. Ich meine, im daraufhin einsetzenden Lachen einen Unterton von Sarkasmus zu vernehmen. Ein Spiel...
Ein Schauspiel ist es in jedem Fall, diese Jagd durch die Pfützen, wenn das Wasser hochspritzt auf die Brille und ins Gesicht. Wir verkehren mit den Elementen sozusagen auf Augenhöhe. Von den Regenjacken tropft die Nässe, die klatschnassen Knielinge kleben an den Beinen. In St. Hippolyte, Kilometer 170, verlässt der erste aus unserer Truppe die Bühne. Sein Knie hält der Kälte nicht länger stand. Wir anderen stürmen weiter, hart im Nehmen. Ein Schauspiel sind auch die überspülten Straßen an wild rauschenden Flüssen, wo Schilder aus dem Wasser ragen, Privatbesitz, während der Privatbesitz selbst zur Unterwasserlandschaft geworden ist.
Im Hotel du Gigot, der dritten Kontrolle am Ende des Vallée du Dessoubre, bröselt mir zur Pasta der Sand aus den Haaren. Nach der ersten Portion stellt uns die Chefin gleich einen ganzen Pott Nudeln auf den Tisch. Sie hat ganz offensichtlich Verständnis für unseren Heißhunger. Einen Kaffee noch und das Spiel geht weiter.
Vor der Tür steht zunächst die Reparatur eines gerissenen Schaltzuges eines Mitspielers an, eine halbe Stunde vergeblichen Bemühens in der klammen Feuchtigkeit des Dessoubre-Tales. Der Kollege wird sich an eine Werkstatt wenden müssen, 15 Kilometer weiter. Wir fahren mit unseren intakten Requisiten voraus. In La Chaux-de-Fonds treffen wir auf zwei Schweizer Kollegen. Auch sie schmeißen den Bettel hin - Knieprobleme.
Wir machen uns an den Anstieg hoch nach La Vue-des-Alpes. Meine Gedanken wandern von den Schweizer Kniegelenken zu meinen beiden eigenen. Sind die wirklich noch in Ordnung? Wie feines Gift meine ich im linken Knie etwas zu spüren, ein hinterhältiges Gift, das seine Wirkung erst noch entfalten könnte. Einmal mehr müssen die Erwartungen hinter dem Namen Vue-des-Alpes, Alpensicht, zurückbleiben: Grauer Nebel, mehr gibt's heute nicht. Dazu peitschender Regen auf diesem Pass auf fast 1300 Metern Höhe.
Andere Menschen, andere Spiele: wir finden uns im Restaurant inmitten einer Seniorentanzveranstaltung wieder. Ich setze mich in den Nebenraum, um sie nicht unentwegt anstarren zu müssen, wie sie zur Musik eines Alleinunterhalters auf der Tanzfläche ihre bescheidenen Kreise ziehen. Ein Milchkaffee, ein Stück Kuchen. Zögernd geht es weiter, hinaus in die Kälte der nahenden Nacht. Ein Ende der Regenfront ist nicht absehbar. Die Hügel nach Pontarlier sind zäh, aber so will es die Regie. Flachfahren kann jeder. Das Gift in meinem Knie entfaltet zunehmend Wirkung, bei jedem Anstieg etwas mehr. Nicht schmerzhaft, aber gerade so, dass ich spüre, dass der Schmerz über mir hängt wie ein Damoklesschwert: es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis es auf mich niederfährt.
In Pontarlier, bei Kilometer 300, setze ich eine Runde aus, lasse die anderen ziehen. Ich lege mich auf eine Palette unter dem Vordach eines Industriebetriebes und fröstle eine gute Stunde vor mich hin. Zuvor habe ich mich am Bahnhof nach Zügen umgesehen, aber kurz vor Mitternacht geht erwartungsgemäß nichts mehr. Nachts um halb zwei stellt sich dann die Frage, wie das Stück weitergehen könnte. Nach der Ruhephase haben die Knieschmerzen nachgelassen. Ich ringe mit mir. Der Wind käme von hinten... Von zwei Kollegen, die zufällig des Weges kommen, darunter der Mann mit dem zwischenzeitlich reparierten Schaltzug, lasse ich mich mitreißen. Vielleicht schaffe ich es bis zum Wendepunkt in Champagnole. Auch dort wird es Bahnverbindungen geben.
Für Leute in einem desolaten Zustand wie dem meinen ist die fünfte Kontrolle, eine Pizzeria in Champagnole mit ihrer skurrilen Ausstattung - allerhand Devotionalien aus der Blütezeit des Rock'n'Roll an Wänden und Decken - die eigentlich passende Bühne. Allein: wir kommen zu spät, der Chef-Rock'n'Roller setzt uns drei und eine Handvoll weitere Mitstreiter nach einem schnellen Getränk auf die Straße. Immerhin hat der Regen aufgehört. Ich weigere mich, hier den Kältetod zu sterben, während ich auf den ersten Zug warte. Stattdessen unternehme ich einen letzten verzweifelten Versuch, das Brevet zuende zu fahren. Er währt nicht allzu lange.
Als ich auf meiner schmalen Bank wieder erwache, spüre ich die Unerbittlichkeit dieses Schauspiels. Die Kälte kriecht unter meine Decke und in die Klamotten, sie geht durch Mark und Bein; Nebel, wohin das Auge blickt. Was macht das Knie? Nach den ersten Kurbelumdrehungen wird klar: bis zum nächsten Bahnhof in Besançon wird es wohl durchhalten, fünfzig oder sechzig Kilometer. Mehr ist nicht drin. Spielverderber.
Der Vorhang fällt. Es ist nicht nötig, sich zu verbeugen. In der Einsamkeit des Juras fände sich weit und breit kein Zuschauer, der Anteil nehmen wollte an meiner kleinen Tragödie. Mein Abgang erfolgt in aller Stille während sich um mich herum der neue Tag entfaltet. Ich denke an die wenigen, die am Ende dieses Tages in die Königsklasse der Randonneure aufgestiegen sein werden, und es wird mir etwas schwer ums Herz: gerne wäre ich mit ihnen angekommen.
Strecke: |
428 km |
Höhendifferenz: |
4825 hm |
Fahrzeit: |
18:14 h |
Schnitt: |
23,5 km/h |
Gesamtzeit |
25:30 h |
(Werte bis Besançon) |