Alpenbrevet 2008

Meiringen, 9. August 2008        


Die Anonymität des Internets lässt die Hemmschwelle für das Ausposaunen von Peinlichkeiten aller Art sinken. Habe ich mich bisher diesbezüglich mehr oder weniger zurückgehalten, so ist nun der Zeitpunkt gekommen, mich dem allgemeinen Trend zu fügen.

Wir sind in Meiringen. Alles am Vorabend klappte wie am Schnürchen: Punkt neun abends haben wir, Urban Hilpert, Ralph Schwörer und ich, die letzten Startplätze des gestrigen Tages erstanden. Dann war für die Helfer Feierabend. Unser Programm ging weiter: Pizza essen, Parkplatz suchen, Schlafplatz finden, Bier trinken: alles wunderbar. GrimselDie schweren Regenwolken zeigen Lücken. Dann der Wecker um 5:20 Uhr. Aufstehen, Radklamotten anziehen, Schlafsack zusammenrollen. Fehlen noch die Schuhe. Soll ich sie gleich anziehen oder erst kurz vor dem Start? Im Schein der Stirnlampe angle ich sie aus meiner Sporttasche - und mich trifft der Schlag: Ich habe die falschen Radschuhe eingepackt. Zwei linke obendrein. Eine Erklärung erspare ich mir an dieser Stelle...

Das wär's also gewesen mit dem diesjährigen Versuch, das Alpenbrevet mit seinen fünf Pässen, Grimsel, Nufenen, Lukmanier, Oberalp und Susten zu fahren. Vor zwei Jahren unternahm ich in ähnlicher Besetzung einen ersten Versuch, damals von Andermatt aus. Über Nacht hatte es geschneit, Susten und Grimsel waren daraufhin unpassierbar. So blieb für alle nur die Ausweichmöglichkeit über Gotthard, Lukmanier und Oberalppass. Die Kastratenversion sozusagen. Nicht wirklich befriedigend. Und nun stehe ich da, in meinen Freizeitschläppchen, und sehe, wie die Zweitausender vor meinem geistigen Auge in Schutt und Asche zerfallen. Ich bin immerhin Manns genug, nicht sofort loszuheulen.

Beim Kaffeetrinken sortiere ich meine Gedanken. In Schläppchen zu fahren, macht keinen Sinn. Unmöglich? Unmöglich! Alle Versuche, Schuhe zu organisieren, sind fehlgeschlagen - am Stand von Stöckli auf dem Gelände gab's nur MTB-Schuhe, also bin ich morgens um sechs Uhr in den Ortskern gefahren, habe beide Radgeschäfte abgeklappert: geschlossen. Wenigstens Turnschuhe. Mein Radkollege Stutz vom Schauinsland und sein Bruder Arnold, die ebenfalls an den Start gehen, können mir auch nicht aushelfen. Das Schicksal - was denn sonst? - hat mich also dazu verurteilt, einen endlos langen Tag in Meiringen abzuhängen, während meine Kollegen heroisch gegen die 7000 Höhenmeter der Platinstrecke ankämpfen. Die Vorstellung ist unerträglich. Vielleicht werde ich zur Großen Scheidegg hochkriechen. Oder doch ein bisschen mitrollen, soweit es eben geht? Bis zuletzt zögere ich, der Startschuss um 6.45 Uhr ist gefallen, die ersten sind längst auf der Strecke. Schließlich reihe ich mich als einer der Letzten ins Feld ein. Grau hängt der Himmel über uns.

Sofort merke ich, dass ich mich hinten nicht ganz wohl fühle. Also gebe ich über meine hauchdünnen Gummisohlen leicht Druck auf die Pedale und orientiere mich etwas weiter nach vorn. In Innertkirchen, sechs Kilometer weiter, gibt es tatsächlich ein offenes Radgeschäft. Ich mache kehrt, frage den Inhaber nach Rennradschuhen. Der einzig womöglich passende Schuh liegt bei knapp 250 Franken und sprengt mein Budget bei weitem. Ich habe es befürchtet. Ein zweites Mal rolle ich das Feld von hinten auf.

Ich gehe es locker an. Ich bin als Genussfahrer unterwegs, vom Wettbewerb unbeleckt. Dennoch lasse ich in der Auffahrt zum Grimsel einen nach dem anderen hinter mir: meine Fußsohlen tun zwar etwas weh, aber es geht. Immer wieder gleiten meine Füße nach außen ab. Jeden Versuch, im Wiegetritt zu fahren, würgt der einschießende Schmerz nach zwei, drei Kurbelumdrehungen ab. Ich fahre zum Stutz auf, der sich einen Scherz über mein Schuhwerk nicht verkneifen kann, und schon bald zu Urban. Dann sind wir auf der Passhöhe. 1500 Höhenmeter mit solchen Latschen. Ich bin selbst etwas beeindruckt von mir...

Wir rauschen in die Tiefe. Die Wolkendecke reißt auf, Sonnenstrahlen erzeugen eine bizzarre Szenerie. Die feuchte Straße hoch zum Furka glänzt erhaben. In Gletsch zögere ich nicht einen Moment, ob ich die kurze Route zum Furkapass nehmen soll: Wenn ich bis zum Grimsel komme, komme ich auch bis zum Nufenen. Hinein ins Vergnügen!

Das Einzige, worauf ich schon den ganzen Morgen achte, sind Schuhe. Sidi, Shimano, Specialized, Carnac, in jedweder Farbe: alle fahren sie mit richtigen Schuhen. Ich werde gelb vor Neid. Dennoch, ich kann es kaum glauben, absolviere ich auch die schwere Auffahrt zum Nufenen mit Bravour. Auf 2476 Meter Höhe reihe ich mich am Verpflegungsstand ein zum Flaschen Füllen, greife ein paar Riegel ab. Ich ziehe die Regenjacke über und mache mich auf den Weg nach Airolo. Talwärts können sich meine Fußsohlen etwas erholen, obwohl in der Gruppe, die ich auffahre, nicht gebummelt wird. Hier treffe ich Veit aus dem bayerischen Penzing wieder: am Nufenen wollte er mich dazu überreden, die Platinstrecke auf mich zu nehmen.

St. GorrhardDann, Punkt 11 Uhr, der Scheidepunkt in Airolo: rechts geht es nach Biasca und damit auf die 270-km-Runde, links auf die 170-km-Strecke über den Gotthard. Sei vernünftig! sage ich mir, dennoch stehe ich eine halbe Minute unschlüssig an der Kreuzung. 270 Kilometer mit diesen Schlappen wäre der Wahnsinn und ich hätte die Chance, in die Geschichtsbücher des Alpenbrevets einzugehen... Neben mir taucht eine Fahrerin in roten Überschuhen auf, die mir am Grimsel durch ihre verwegenen Abfahrtkünste aufgefallen ist. Sie biegt links auf die Gold-Strecke ab. Das hilft mir bei meiner Entscheidung. Durch Airolo fahren wir zusammen, am Ortsende versuche ich noch, sie an eine Gruppe ranzuziehen, dann fahre ich wieder meinen Rhythmus.

Der Gotthard-Pass war nie mein Freund. Die Pflasterstraße ist für jeden Rennradfahrer eine Schinderei, um so mehr, wenn der Fuß nicht durch eine steife Sohle vor dem kantigen Pedal geschützt ist. Ich stehe es durch. Keiner, der mich überholt, allein ein Fahrer im Phonak-Dress kommt mir in den oberen Kehren bedrohlich nahe. Ein paar Kehren unter mir sehe ich noch einmal die roten Überschuhe leuchten.

Allmählich spüre ich, wie die Beschwerden überhand nehmen. Von den Knien über die Leisten bis zum Rücken schickt mir mein Körper die Rechnung für meinen Frevel. Von den Fußsohlen ganz zu schweigen. Zum Glück hat mich die Rennradpolizei nicht erwischt... Ich danke dem Himmel, dass ich nicht die Platin-Strecke auf mich genommen habe - auf einen Eintrag in den Geschichtsbüchern pfeife ich. Die Auffahrt zum Sustenpass scheint endlos lang, die Route folgt, über viele Kilometer einsehbar, der nördlichen Bergflanke. Ich denke immer wieder an die Absolventen der großen Runde, die diesen Pass dann noch vor sich haben, wenn ich längst durchs Ziel bin. Dass ich das Ziel erreiche, steht für mich außer Frage.das Schuhwerk

Die Passhöhe kommt plötzlich: ein Tunnel, ein Schwenk nach rechts, ein weiterer Tunnel, dann der weite Blick übers Berner Oberland. Ich nehme schnell noch etwas Verpflegung vom Stand, und bin glücklich, dass mir nur noch eine letzte Abfahrt bevorsteht. Zusammen mit vier, fünf Paar wirbelnder Schuhe, die sich in der Talfahrt um mich versammelt haben, rase ich auf Meiringen zu. Herrlicher Sonnenschein, Alpenpanorama, eine Prise Endorphine. Die Zieleinfahrt. 174 Kilometer, fast 5300 Höhenmeter in schlichten Freizeitschläppchen.

Nachahmer seien gewarnt.

 

Strecke

174 km

Höhenmeter:

5294

Fahrzeit

8:28:02 h

Schnitt

20,5 km/h

Platzierung:

26 (491)