Jura-Brevet 2008

Montag, 30. Juni 2008


Als der Menschheit nach 14 Milliarden Jahren der Evolution endlich das Fahrrad fix und fertig zum Gebrauch übergeben wurde, ahnte noch niemand, welcher Dämon damit in den Köpfen einiger geweckt würde. Niemand dachte daran, dass damit Tag und Nacht auf den Straßen der fünf Kontinente zu fahren sei, mit nichts als einem Streckenplan zur Hand, gepflegter Muskulatur an den Beinen und im Kopf die Idee von Weitläufigkeit - eine Idee, die in einem ganz speziellen Menschenschlag - den Randonneuren - Wurzeln schlagen würde. Weitläufigkeit: offene Horizonte, die sich bei hereinbrechender Nacht auflösen und im ersten Tageslicht neu zusammensetzen, dort, wo die Häuser aus anderem Stein gebaut sind als noch am Abend zuvor, wo die Landwirtschaft anderen klimatischen und geografischen Bedingungen gehorcht und der Bäcker, wenn man seinen leeren Magen mit dem neuen Tag versöhnt, einen anderen Dialekt oder gar eine andere Sprache spricht und ungläubig die übernächtigten Gesichter betrachtet. Den Menschenschlag der Randonneure findet man überall auf der Welt, in Kanada ebenso wie in Russland, Japan oder Australien. In Frankreich sowieso. In Freiburg finden sich im Juli des Jahres 2008 neun Exemplare davon, genauer: sechs, drei kommen von etwas weiter weg.

Jura-Brevet 2008Neun Exemplare sind es also, die sich so noch nie getroffen hatten und sich an diesem Sommermorgen zusammentun, um gemeinsam fünfhundert Kilometer hinter sich zu bringen. Kämpfer und Frohnaturen, Vorsichtige und Übermütige, Philosophen und Querdenker. Oder alles in einem. Man beschnuppert sich, fasst Vertrauen, bald machen Scherze die Runde. Wie ein Woge brandet unsere Mannschaft bei Neuenburg über den Rhein hinein ins Elsass, beschirmt von einem zartblauen Himmel. Das Sundgau rollt unter unseren Rädern durch, dann die ersten Ausläufer des Jura. In St. Hippolyte im Doubstal lehnen die Räder nach 170 Kilometern zum ersten Mal für mehr als ein paar Minuten an der Mauer eines Supermarktes. Die Hitze presst Unmengen von Schweiß aus den Körpern, der ersetzt werden will. Trinken und Essen ist das Gebot der Stunde. Die Klamotten kleben am Leib.

Wieder nehmen die Räder Fahrt auf, hoch nach Maîche, die Muskulatur brennt, die Sonne rückt Richtung Westen vor. Stopp am Friedhof am Ortsausgang, Wasserfassen, weiter. Was für eine feine Fahrgemeinschaft! Keine Klagen, keiner, der die Arbeit im Wind scheut. Jeder Tritt bringt uns näher nach Pontarlier, dem Wendepunkt im Herzen des Jura. Pontarlier: Ein Fotoshooting unter dem Torbogen, Verschnaufpause, Essen, Trinken und Kehrtwende Richtung Norden, quer zu den Hügelketten. Ein lauer Sommerabend legt sich über die einsame Gegend und taucht die schmalen Sträßchen in ein Licht von berauschender Intensität. Oder kommt sie vom endlosen Treten?

Die Nacht ist angebrochen, als wir uns aus Ornans verabschieden. Die eben noch ausgelassene Stimmung am Restauranttisch verliert sich in der Dunkelheit. Der Mensch kehrt in sich, wird mit jedem Anstieg schweigsamer. Gesprochen wird erst wieder, als bei Clerval das Gerücht die Runde macht, dass wir einen aus unserem Kreis in der Dunkelheit verloren haben. Suchen, Warten, Hoffen, die Müdigkeit greift um sich. Mitternacht ist längst vorbei. Irgendwann ist die Runde wieder komplett, hetzt hinter dem Scheinwerferlicht her, versucht bis zuletzt, dem Schlafbedürfnis zu entkommen. Vergeblich. Zwanzig Minuten wollen wir uns gewähren, irgendwo unter dem Vordach eines Gewerbebetriebes am Dorfrand.

Wie zäh nur ist die letzte Stunde vor dem Morgengrauen, wenn sich die Müdigkeit wie Blei auf die Lider legt, sich wie eine Kralle des Gehirns bemächtigt! Nie wieder, denkt man, lässt man sich zu so einem wahnwitzigen Treiben hinreißen, nie wieder, ich schwör's...

Der Tag bricht an, schält sich in diesen unwirklichen Farben aus der Dunkelheit heraus, die Kralle auf dem Gehirn verliert ihren schmerzhaften Druck, man wundert sich, wie man das alles hat überstehen können und lässt sich die verbleibenden hundert Kilometer gerne gefallen. Französischer Milchkaffee, frische Croissants: das Leben kehrt zurück. Wir kehren zurück: queren bei Fessenheim den Rhein und lassen es ausrollen, bis uns in Freiburg zur Mittagszeit der Regen einholt. Man reicht sich zum Abschied die dreckverschmierten Hände und schaut in abgekämpfte Gesichter, hinter denen man etwas zu erkennen meint, das uns über diese sechsundzwanzig Stunden hinaus verbinden wird.

 

Strecke:

500 km

Gesamtzeit:

26:00 h

Höhendifferenz:

4322 m