Auf der Spur der Schwaben

ARA Breisgau: 400 Kilometer     Freiburg, 28. Mai 2016, 8 Uhr


Auch wenn aus dem Alltag des Randonneurs nicht allzu viel bekannt ist, da er ohne Rad ja vollkommen undervcover lebt, so ahnt man doch, dass auch er, wie der verbleibende Rest der Bevölkerung, Stimmungsschwankungen unterworfen ist, die sich meist mit dem Nahen der Brevetwochenenden bessern, so wie etwa der rechtschaffene Schwabe – sollten die mannigfaltigen Berichte über seine Wesensart stimmen – während Wochen unerträglich sein kann und erst zum Wochenende Stimmungsaufhellungen erfährt, wenn das Schild für die Kehrwoche turnusmäßig wieder bei ihm an der Wohnungstür hängt, oder etwa, wenn er seinen Mercedes wieder durch die Waschanlage fahren darf, bevor er am Wochenende zu seinem See – dem Bodensee – aufbricht, wenn er nicht gerade in seinen angestammten Urlaubsparadiesen weilt, in Bali oder Thailand, neuerdings auch auf Cuba, wo es mit der schwäbischen Hausmannskost allerdings, im Gegensatz zu seinen Stammlokalen in Fernost, noch nicht so weit her sein soll.

Nun gibt es natürlich kaum Regeln ohne Ausnahmen, und so kann es tatsächlich mal passieren, dass man auch mal gar keine Lust hat auf ein Brevet, das wäre ungewöhnlich und beunruhigend, aber was soll man machen, wenn es tatsächlich der Fall ist? Nicht starten kommt ja nicht in Frage, also macht man sich halt, wenn die Zeit wieder reif ist, und das ist sie nun mal am 28. Mai 2016, auf den Weg zum Bodensee, obwohl man weiß, dass man zuhause eigentlich wirklich nützliche Dinge erledigen könnte, wie etwa den Rasen zu mähen oder meinetwegen auch die Kehrwoche zu absolvieren, was im Badischen sowieso grob vernachlässigt wird. Aber nein, man will ja auch den See dem Schwaben nicht kampflos überlassen, sondern die Völkerverständigung vorantreiben. im DreisamtalVon Kampf kann sowieso keine Rede sein, das Wetter lässt sich sogar zu ein paar schwachen Sonnestrahlen herab und bis nach Schaffhausen ist das alles kein Drama, zumal uns der Wind auch noch Beine macht, und ganz ohne Regen, der bei Schaffhausen mal für eine halbe Stunde niederprasselt, würde uns nach den vergangenen Brevets dieses Jahres auch etwas fehlen.

Kritische Momente lassen sich allenfalls auf der Zufahrtsstraße zum Rheinfall vermerken, als ein bekannter Freiburger Hasardeur direkt hinter mir statt um die Schranke herum in die Schranke knallt, die eigentlich nur den Autoverkehr stoppen soll. Abgesehen von einem ordentlichen Scheppern, einer demolierten Schranke und einer ansehnlichen Wunde am Knie geht alles recht glimpflich ab, und einer Weiterfahrt nach Konstanz steht nach einer kurzen Rast in nächster Nähe des Wasserfalls inmitten von Japanern, Schweizern und Schwaben insofern nichts im Wege. am RheinfallZwei Stunden später zeigt sich Konstanz, kulturell gesehen, von seiner besten Seite, als wir uns durch Getümmel des Zentrums zwängen, auf der Suche nach einer Gaststätte fürs Mittagessen: zunächst findet rund um das Münster eine Art Karneval statt, wo Menschen sehr mittelalterlich daherkommen, was unsere Tour noch zusätzlich aufwertet, später ist es ein Studentenensemble, das sich mit Ghettobluster und einem Kasten Bier vor dem Eingang seines mutmaßlichen Wohnsitzes breit macht und ein realitätsnahes Abbild der Partygesellschaft präsentiert, während wir, jetzt nur noch zu dritt, ein paar Schritte weiter am Tisch einer Pizzeria neben Margherita und Weizenbier auch die überwältigenden Eindrücke dieser Stadt verdauen. Reisen bildet.

So gern man hier in dieser netten Nachbarschaft verweilen wollte bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, wir haben unsere Pflicht erfüllt, badische Präsenz am See gezeigt, es gibt kein Grund mehr für weiteren Müßiggang, und so verlassen wir die Studentenstadt am Schwäbischen Meer in Richtung Bodanrücken, weiterhin zu dritt, dann nur noch zu zweit und irgendwann bin ich dann alleine auf meinem Weg zur nächsten Station: Beuron im Donautal. Ich könnte nicht sagen, dass die Lustlosigkeit des frühen Morgens von Dauer wäre, nein, unter der nachmittäglichen Sonne lebt und fährt es sich angenehm, und eine Einkehr in der Pilgergaststätte in Beuron, zwischen Pilgern und Randonneuren, die ja auch nichts anderes sind als Pilger, lässt schließlich auch vergessen, wie viel sinnvoller es doch gewesen wäre, mit galanten Besenschwüngen Treppen und Gehsteige zu fegen.

Balingen, TankstelleBalingen: Tankstelle, großes zufälliges Zusammenrotten – acht Kumpane formieren sich zu einer hochmotivierten Gruppe, die bis Freudenstadt hält. Dort, bei Einbruch der Dämmerung, ist wieder eine Tankstelle am Ortseingang angesagt. Der Tankwart entpuppt sich als begeisterter Fan des Randonneursports: vom ersten Fahrer, der hier nach einem Stempel verlangt hat, führt er akribisch Buch über den Verlauf der Aktion. Brötchen, alkoholfreies Bier. Ab hier könnte das Brevet so einfach werden wie Kehrwoche  mit dem vollautomatischen Elektromob: ein kurzer Anstieg noch, dann 20 Kilometer Abfahrt im Dunkeln durchs Wolfachtal. Und gleich nochmal kurz hoch zum Landwassereck, eine bösartiges Nachkrampfen dieses fast schon zur Strecke gebrachten Brevets. Könnte.  Ein alkoholfreies Bier jedoch – man glaubt es kaum, aber so werde ich später aus kundigem Munde belehrt – schafft es entgegen aller verbreiteten Volksweisheiten, wenn die Umstände günstig sind, auch einen Hünen zu Fall zu bringen. Und siehe: aus heiterem Himmel zieht es mir im hochprozentigen Aufstieg zum Landwassereck den Boden unter den Füßen weg. Oben hänge ich über dem Lenker und mir wird speiübel. In der Abfahrt lasse ich abreißen. Dann setzt der Regen ein, und mit einem Mal ist der Zauber dieses Tages endgültig verflogen. In mir und um mir herum ist alles – man sehe mir die drastische Ausdrucksweise nach – zum Erbrechen. Eine Bushaltestelle, die im rechten Moment im weißlichen Schein der Straßenlaternen vor mir auftaucht, trägt – und das rechne ich ihr hoch an – zu meiner Rettung bei und ich lege mich ab: Magenkämpfe, einsetzender Schüttelfrost. Dann döse ich weg. Der Regen lässt nach, ich wache gegen viertel vor ein Uhr wieder auf. Die letzten vierzig Kilometer nach Freiburg kämpfe ich mich in einem Tempo voran, wie ich sonst mit dem Rasenmäher über den nun leider vernachlässigten Rasen fahre. In solchen finsteren Momenten neigt man dazu, derlei häuslichen Tätigkeiten zu verklären. Aber ich schwöre, dass dies wieder anders wird. Im Herzen bin ich eher kein Schwabe.

Strecke:

401 km

Höhendifferenz:

4000 hm

Fahrzeit:

15:05 h

Schnitt:

26,6 km/h

Gesamtzeit:

18:27 h

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