Paris-Brest-Paris 2015

Paris, 16. August, 2015, 16:30 Uhr


Spätestens in Saint-Quentin-en-Yvelines ist der Glanz von Paris abgeblättert und aus gutem Grund begeben sich von den Millionen Besuchern, die sich jährlich in den bateau-mouches über die Seine schippern lassen oder am Eiffelturm Schlange stehen, bestimmt nur eine Handvoll über Versailles hinaus – abgesehen von dem Massenansturm, die hier alle vier Jahre einsetzt: vieltausendköpfiges Volk mit Rädern, was an sich noch kein Indiz wäre, dass damit etwas nicht in Ordnung wäre, auch wenn es hier außer den Betonquadern, die lieblos in den Boden gerammt wurden, nicht viel zu sehen gibt, aber Fakt ist ja, dass alle gleich schon wieder weg wollen, kaum dass sie da sind, was an sich auch nicht auffällig wäre. Erst wenn man weiß, was sie hierher treibt, ist klar, dass etwas nicht stimmt mit ihnen, denn – eigentlich unvorstellbar – ausgerechnet hier, inmitten dieser grauen Fassaden und stumpfen Fensterfronten wird der Mythos des ersten großen Rennens in der Geschichte des Radsports, Paris-Brest-Paris, gepflegt und befeuert, genau hier legen sie den Köder aus für all die Menschen mit ihren Rädern, die sich einbilden, Paris-Brest-Paris wäre genau das Richtige für sie, 1200 Kilometer in neunzig Stunden, und so schlucken sie den Köder und Merkwürdiges passiert daraufhin mit ihnen, das kann man ruhig so sagen, sie kommen in einem besonderen Zustand der Erregung und glauben alles, was man ihnen erzählt, auch dass es Radfahrer geben soll, die wieder heil zurückgekommen sind von dieser Tour, ich selbst habe diesen Erregungszustand bereits am eigenen Leib erfahren und weiß, wovon ich rede, und schlimmer noch, jetzt bin schon wieder hier.

Sechstausend sind es, die aus unterschiedlichen Ländern und Kontinenten nach Saint-Quentin geströmt sind, bereit, am 16. August 2015 ihren Kopf unter die Guillotine zu legen, nicht anders kann man es ausdrücken,  denn wären wir bei Sinnen, wüssten wir ganz genau, dass es ein unmögliches Unterfangen ist, eine Tortur mit verheerendem Ausgang. Ebenso wie allein Gaukler und Scharlatane übers Wasser wandeln, ist es keinem normalen Menschen vergönnt, per Rad die lange Schleife in die Bretagne zu bestehen, allenfalls noch den Leichtgläubigen, die nicht zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden wollen, nein, dem normalen Menschen wird es auf immer verwehrt sein, 1200 Kilometer am Stück mit dem Rad zu fahren, und wären wir nicht so verbissen in uns unsere Sache, wir würden die Finger davon lassen, all denen zum Trotz, die behaupten, dass dies möglich sei und uns wie zum Beweis vorhalten werden, was denn da 2003, 2007, 2011 gewesen sei – waren wir da nicht erfolgreich gewesen in unserem Treiben? Das waren andere Zeiten, würden wir ihnen entgegnen, wir waren verblendet oder Gaukler und Scharlatane, es war eine andere Epoche, denn alle vier Jahre beginnt eine neue Zeitrechnung, dann, wenn man in Paris durch den Zielbogen fährt oder jedenfalls glaubt, durch den Zielbogen zu fahren, denn jeder, der nach langem Leiden wieder in Paris auftaucht, ist so wirr im Kopfe, dass er sich alles, wirklich alles einbilden kann, selbst dass er es geschafft haben könnte.

Man muss behutsam sein im Umgang mit all diesen Unternehmern, Angestellten, Sozialhilfeempfängern, die sich mit staksenden Schritten am Start tummeln, die nichts sind als Kinder, die man nicht verstören will, wo sie doch ihr letztes Taschengeld für ihr Spielzeug ausgegeben haben, überzeugt, dass die Stahlrohre ihres Renners für ihren labilen Charakter stehen, das Carbongeflecht ihre ersehnte Leichtigkeit widerspiegelt, das Titan ihre äußerst fragliche Unverwüstlichkeit. Als ich noch ein Schuljunge war, war es ein gelber Lamborghini, dem ich all die Kraft zuschrieb, über die ich selbst verfügen wollte und der Lamborghini war so groß wie mein Kinderdaumen, was rückblickend wirklich lächerlich ist und genauso machen wir uns vor aller Augen lächerlich mit unserer Idee, mit diesen Gefährten die Bretagne zu erobern, auch wenn wir Stunde um Stunde vergeuden, um an allen nur denkbaren Details zu feilen wie die Wicklung des Lenkerbandes, der Sitz der Bremsen, das Blitzen der Zahnkränze, der Ketten oder die perfekte Höhe des Sattels, die Halterungen für Licht und Taschen –  und zu Tausenden stehen sie nun in den Hochsommertagen entlang der unwirtlichen Straßen, diese vermeintlichen Prunkstücke, und rühren sich trotz aller pflegerischer Sorgfalt von selbst nicht einen Millimeter vom Fleck, und wer nur einen Funken Verstand hat, der weiß, dass das mit solchem Gerät nicht funktionieren kann, da mag man, wie ein Psychologe, ganze Tage allein mit dem Studium der Eigenheiten eines jeden einzelnen Untersatzes füllen, man wird im Rückschluss auf ihre Besitzer nur den Kopf schütteln können. In der gegebenen Enge ist Letzteren jede Abstellmöglichkeit gerade gut genug, sie lehnen ihre Spielzeuge an jedes Bäumchen und jedem Abstellbügel, versperren den Weg zu den Restauranttischen und pflastern die Rasenfläche rund um die neu errichtete Radrennbahn, dem Zentrum der Organisation von PBP, und die Kraft der Objekte entspricht der des Lamborghini meiner Kindheit, aber alle hier glauben, es besser zu wissen, und es ist sinnlos, sie darauf hinzuweisen, ihr Entschluss steht ohnehin fest.

Die Waghalsigsten, die im ersten Block starten, verabschieden sich am Sonntag um 16 Uhr, zweihundertfünfzig, die, man muss es sich eingestehen, mehr hinausgeschleudert werden, als dass sie selbst durch eigenes Zutun über die breiten Straßen nach Westen hin jagen. In dieser Phase gibt es kein Halten: das Blut strömt unkontrolliert in die Beine und ermöglicht dort den eingespielten Ablauf von Muskelkontraktionen, die über die Füße den Druck auf die Kette bringen, was spielerisch aussieht, und das könnte es ja auch sein: ein Spiel. Aber es geht zu weit.

erste EtappeDie Menschen am Streckenrand scheinen angesteckt zu sein von diesem kollektiven Irrglauben und wenn die wirbelnden Felder westwärts rauschen, klatschen und rufen sie, frei von aller Ironie, während die Wagemutigsten zuerst, dann wir anderen, uns im Aufbruch an den Lenker klammern, im Wissen darum, dass es nun gilt, die Reise der Schmerzen hat begonnen. Die Sinne sind aufs Äußerste geschärft, um jedem unheilvollen Schwenk des Vordermanns auszuweichen, um jedes angedeutete Bremsen im Feld mit eigenem Zug an den Bremshebeln zu beantworten. Die Fahrt aus der Stadt ist ein Mikrokosmos von winzigen Kommunikationen zwischen den Teilnehmern, die schweigend dahinrollen, denn dies ist nicht der rechte Augenblick, um Worte zu wechseln, sondern um die Gesten der Mitfahrer im Auge zu behalten, um nicht vor der Zeit auf der Strecke zu bleiben, weil man auf eine plötzlich auftauchende Verkehrsinsel knallt oder sich am Hinterrad seines Vordermanns verhakt und ohne jede Möglichkeit, das Schlimmste abzuwenden, zu Boden geht und Gefahr läuft, von der davonstrebenden Meute überrollt zu werden, es ist ein Spiel mit dem Feuer und spätestens hier könnte man merken: wir werden niemals ankommen. Es ist ausgeschlossen.

Der Erste, den ich zu Boden gehen sehe, hat beim Griff nach einer Flasche, die ihm Zuschauer hingehalten hatten, die Bordsteinkante touchiert und er fällt der Länge nach rücklings auf den Asphalt, aber aus den Augenwinkeln heraus sehe ich, dass er sich sogleich wieder bewegt. Es wäre fatal, zu bremsen und sich seines Wohlergehens zu versichern, hinter mir lauert eine Hundertschaft von Fahrern, die, wenn alles gut verläuft, gerade noch rechtzeitig ausweichen kann, wobei das Brüllen, das durchs Feld geht, enorm hilft, und ich bin erleichtert, als das Scheppern, wie man es kennt, wenn Räder zusammenstoßen, ausbleibt, woraus ich schließe, dass das Glück auf unserer Seite ist, unsere Seite, das heißt die Gruppe, in der ich um 16.30 Uhr, eine halbe Stunde nach den Ersten, gestartet bin, und die nun in aller Schärfe weiterzieht, obwohl jeder weiß, dass das Tempo verrückt ist, was aber zu den Geburtswehen von PBP gehört, jene Phase, wo jeder leidet, besessen von dieser grauenhaften Angst, aus dem Block ausgespuckt zu werden und sich alleine wiederzufinden, aber der Verstand war von Anfang an nicht Teil des Ganzen, sondern diese abartige Energie, die sich über die Monate angestaut hat und nun endlich freigesetzt wird.

120 Kilometer und dreieinhalb Stunden später beginnt die Straße unter mir mehr und mehr zu schwimmen, was, wie sich herausstellt, kein psychisches Phänomen, sondern ein Druckabfall im Hinterrad ist, der mich dazu zwingt, auszuscheren und den Strom wie ein Tornado an mir vorbeirauschen zu lassen. Während ich den neuen Schlauch aufziehe, huschen noch vereinzelt Nachzügler vorüber, dann wird es sehr still, nur mein Puls, obwohl sich der Kreislauf längst beruhigt hat, hämmert in einer beängstigenden Langsamkeit gegen die Schläfen und die Straße vibriert unter diesem fast metallischen Pochen, das nichts anderes ist als mein Motor, der im Sterben liegt. Friedlich weidende Schimmel schauen neugierig zu mir herüber, sie wissen aus den Vorjahren, was hier gespielt wird, und wiehern belustigt und freuen sich bereits auf die Rückkehr der ganzen Meute, übermorgen vielleicht oder noch später, wenn überhaupt. Es ist zweifellos anmaßend, zu glauben, der Mensch könnte es dem Pferde gleichtun in seinem Drang nach Fortbewegung aus eigener Kraft.

Mortagne ist eine reine Verpflegungsstelle, 140 Kilometer sind bis hierhin zurückgelegt, das hat sich eingebrannt ins Hirn und es beruhigt mich nicht, und schon überholt mich die Spitze der folgenden Startergruppe in den Gassen der Stadt, allen voran ein blonder, kraftstrotzender Italiener, dessen langes Haar ihm unter dem Helm hervorquillt, und sie fahren, als ahnten sie nichts vom Niedergang, der auch auf sie wartet. Der Anstieg ist steil und ich habe ihnen nichts entgegenzusetzen. Am Haltepunkt ist alles so organisiert, dass man rasch weiterkommt: die Zeit, so könnte man mutmaßen, ist der Gegner des Randonneurs, die Rastlosigkeit sitzt ihm im Nacken und in den Fußspitzen und beherrscht die Handlungen all jener, die hier kreuz und quer über den Platz eilen, Flaschen tragend, sich mit heiseren Stimmen zurufend, und auch ich zapfe mir Wasser am Hahn und es ist ein Wunder, dass ich mich zurück auf den weiten Weg begebe, der noch vor mir liegt, denn aller Zauber ist geschwunden und so verspreche ich mir von dieser Nacht nur Schlimmes.

Villaines-la-JuhelDie Dunkelheit verschluckt den feindlichen Horizont jenseits der Hügel, dann, allmählich, beginnen die Sterne zu leuchten von sehr fern und Paris könnte genauso gut in einem dieser Sternbilder liegen, die Landkarte in meinem Kopf wellt und dehnt sich weit über meine Begriffsfähigkeit hinaus, und ich unterlasse zumeist jeden Versuch, mich an irgendwelche Grüppchen, die durch die Nacht schwärmen, dranzuhängen, denn es ist sinnlos, und wenn es mir dann doch passiert, hält es nicht lange an, ehe ich sie ziehen lassen muss, aber es kommt nicht darauf an, Meter für Meter werde ich dahinrollen, langsamer und langsamer werdend, bis die Kräfte vollends geschwunden sind und ich trotz eines letzten Aufbäumens vom Rad kippen werde wie ein betrunkenes Huhn. So erreiche ich Villaine, die erste tatsächliche Kontrolle, und fahre durch ein Spalier von Hunderten von Zuschauern – sogar mir, dem Todgeweihten, applaudieren sie und ich frage mich, wofür. Geschieht all dies nur zu ihrer Belustigung?

In der Verpflegungsstelle, einer Turnhalle,  gibt es bereits frische Croissants, obwohl es erst kurz nach halb zwölf ist, was bedeutet, dass ich sieben Stunden für 220 Kilometer gebraucht habe: wer noch die Kraft dazu hat, kann mit diesem Fakt die Illusion des Gelingens nähren, wer sie nicht mehr hat, erkennt endgültig, dass er scheitern wird, denn es sind noch eintausend Kilometer, die vor mir liegen.

Allerorten strahlen die gelben Pfeile in der Nacht: Brest, jeder Weiler, jede zweideutige Kreuzung auf dem Weg ist gezeichnet: Brest, mein mühsamer Tritt auf dem Rad: Brest, mein Atem: Brest – Brest – Brest. Die Nacht ist finster und legt sich wie eine schwere Last auf mich und ich lungere für eine halbe Stunde auf der steinernen Bank einer Bushaltestelle, die die Wärme des Tages gespeichert hält, und treibe durch die schlingernden Spiralen des Schlafs. Brest.

Fougères, nächste Kontrolle bei Kilometer 309. Elf Stunden sind seit dem Start vergangen, und ich treffe auf ein mir bekanntes Brüderpaar, das noch immer guter Dinge ist, aber natürlich wird sich das noch ändern, dann, in der Kantine, wo ich mir Pasta auf den Teller hieve, stoße ich auf einen anderen Begleiter, mit dem ich manches Brevet bestritten habe: er sitzt da, stiert vor sich hin, weit weg –  ist dort, wo der Mensch sein Zuhause hat: in der Realität. Er ist in der selben Startgruppe gefahren wie ich, mit dem selben Feuer, alles abgefackelt, er gibt auf, hier und jetzt, das rote Licht an seine Helmkamera ist erloschen – Ende der Vorstellung. Er ist der Beweis, dass es nicht funktionieren kann.

Als einsamer Geisterfahrer, der in der Vielzahl der Umherirrenden untergeht, nehme ich mein Schicksal wieder auf mich als eines von tausend Rücklichtern, die im Dunkel dahintanzen und nach und nach gen Westen hin entschwinden, und in diesem Zustand kommt mir die Einsamkeit gelegen, denn so kann ich unbehelligt in meiner Welt bleiben, in der sich Wirklichkeit und Phantasie auf kuriose Weise gegenseitig Gesellschaft leisten, die in erstaunlicher Willenlosigkeit mündet. Mit der aufgehenden Sonne schält sich die Straße wieder aus der Dunkelheit und mit ihr der Horizont und alles Elend der Langstrecke: es ist ein Irrsinn.

Tinteniac erreiche ich zur besten Frühstückszeit, und ich setze mich zu den anderen, die die Nacht überstanden haben und die Lider gerade noch offen halten können, und wir alle wissen, es wird wieder ein warmer Tag werden, und starren hinüber zu einem Filmteam, das nach eindrucksvollen Motiven sucht, aber das Angebot an übernächtigten Gesichtern, geröteten Augen, schlaffen Körpern ist überreich, da muss man sich keine Sorgen machen. Alle meine Verrichtungen geschehen mechanisch: Tablett bestücken, essen, Kaffee trinken, Flaschen füllen, Gesäß schmieren. Brest, Brest.

Die Dörfer in der Morgensonne sind eindrücklich und um vieles schöner, als ich sie in meiner lückenhaften Erinnerung verankert hatte, überall Menschen, die mich anfeuern und nicht merken, dass da nur noch ein Zombie auf dem Rad sitzt, viele Natursteinbauten, schmale Gassen, rauer Asphalt, der nie abreißt, der immer wieder neue Fahrer heranträgt, die an mir vorbeiziehen, nur in der ersten Dämmerung war ich für eine Zeitlang in Gesellschaft eines Teilnehmers aus Grenoble mit gleichmäßigem Tritt, der einzige, mit dem ich ein, zwei Dutzend Kilometer gemeinsam gefahren bin, währenddessen er mir seine Enttäuschung darüber offenbarte, dass so wenig unter den Fahrern geredet würde, es sei sein erstes PBP, und ich entgegnete ihm, heute, am zweiten Tag werde alles anders, wenn sich erst die Leidensgemeinschaften gebildet hätten, aber er selbst war voller Optimismus und noch vor dem ersten Sonnenstrahl ergriff er die Gelegenheit, um mit ein paar anderen Leuten davonzuziehen und leider verlieren sich seine Spuren hinter Tinteniac, wir werden also keine Leidensgemeinschaft bilden.

Am Ende werden alle Mühen vergeblich sein, man muss seine Besessenheit nicht auf die Spitze treiben und das Ankommen erzwingen wollen, denn dies macht alles noch lachhafter, und genau deswegen entscheide ich mich in Loudéac, beim Mittagessen in der Kantine, wo das Filmteam diesmal die Kamera auf die Auslagen des Essensbüffets hält, dem das Kameraauge unmöglich denselben Wert beimessen wie der Randonneur, der bis hierhin nicht locker gelassen hat, angesichts dieser Auslagen beschließe ich, in Maël Carhaix, einer ländlichen Ortschaft mitten in der Bretagne, einen alten, dort beheimateten Freund zu treffen und mit ihm Bier zu trinken, und er sagt am Telefon, er habe meinen Anruf bereits erwartet, was nur den Schluss zulässt, dass er mit meinem Scheitern schon längst gerechnet hat. Tatsächlich steht er zur angegebenen Zeit an der Landstraße, aber es gibt hier eine ganze Menge Zuschauer, nur kein Bier, und so verschieben wir unser Treffen nach Carhaix, der letzten Kontrolle vor Brest, und ich sage mir, diese zehn Kilometer schaffe ich noch, und ich gebe mir sogar Mühe voranzukommen, denn der Preis, den es zu gewinnen gibt, ist real, und nicht nur nur ein ein weiterer Stempel ins Kontrollheft, sondern ein dunkles bretonisches Bier in der stechenden Nachmittagsonne, dann ein weiteres, und noch eines, und zwischen all den eintreffenden und aufbrechenden Fahrern, diesem Kommen und Gehen, dem Applaudieren und Durcheinander, das eine Kontrolle ausmacht, kommt mir alles so unwirklich vor und mir ist nicht mehr klar, ob ich noch dazu gehöre oder schon nicht mehr, und dann verschwimmt PBP vor meinen Augen für einen langen Moment. Als ich auf dem Rasenstück neben dem Spalier der Länderflaggen wieder zu mir komme, ist mein Freund verschwunden, so dass ich nicht weiß, wohin mit mir, und beschließe, meine Sachen zusammenzuräumen und auch die letzte Etappe bis Brest in Angriff zu nehmen, um bald darauf, mit bleischweren Gliedern, den ganzen Hügeln, die mir den Weg zum Atlantik verwehren wollen, entgegen aller Einsicht zu Leibe zu rücken, denn jeder weiß, dass dieser Abschnitt der schwerste ist, und es ist nicht der sagenumwobene Roc'h Trévézel, der höchste Punkt der Tour,  der mir Schwierigkeiten macht, sondern die schrecklichen Wellen davor und danach, aber das war mir ja auch klar, und ich täusche mich tatsächlich nicht.

BrestDann taucht Brest auf, und im satten Abendlicht kommt mir die Hässlichkeit ihrer Hafenanlagen wie eine spezielle Form von Schönheit vor, das muss an der Umnachtung liegen, die von mir Besitz ergriffen hat, und es spielt auch fast keine Rolle mehr, dass ich erst die Hälfte erreicht habe, mein Herz schlägt tatsächlich noch und die Beine kreisen, und ich lege eine kurze Pause ein an der Brücke, die sich über den Meeresarm spannt und den Blick auf den Atlantik und die Kräne der Werften freigibt, die hoch in den Himmel ragen, von wo mir ein ferner Gesang ins Ohr säuselt, vermutlich ist es die Stimme vom toten Joe Cocker, With A Little Help From My Friends, auch wenn da keine Hilfe war, aber der Himmel hatte ein Auge auf mich, sonst wäre ich in meinem Zustand überhaupt nicht bis Brest gekommen.

Die Pfeile, die von der Kontrolle weg Orientierung für die Rückfahrt bieten, sind nun orange, und ihre Beschriftung schafft es, das kurze Hochgefühl wieder zu ersticken: Paris. Brest, das ist ein Stempel ins Heft, dann der lange Weg in die Kantine, um zu seinem Essen zu kommen, dann die Wende: noch 615 Kilometer. Der Feierabendverkehr des Hinwegs ist längst zum Stillstand gekommen, als ich die Stadt verlasse –  die zweite Nacht steht an, Totenstille jenseits der Siedlungen, nur zwischendurch unterbrochen von ein paar Unerschrockenen, die auch im Dunkeln ihre Stellungen nicht verlassen, um uns mit ihren Zurufen weiterzutreiben, weiter und immer weiter, bon courage!, sie treiben uns ins Verderben, in der pechschwarzen Nacht hat auch der Himmel kein Auge mehr auf mich und in der Stille sind die klackernden Gangwechsel das einzige Lebenszeichen, das ich hinterlasse, und das Zirpen des Freilaufs, von Zeit zu Zeit. Eine freie Bushaltestelle mit ausbetoniertem Boden dient mir für eine Stunde als Schlafstätte und trotz der Kälte – deutlich unter 10 Grad wird es später heißen – schlafe ich in meiner Decke als wäre schon alles vorbei, denn ich bin hundemüde, und die Starre, die auf das Weckerklingeln folgt, hat nichts mit der Kälte zu tun, sondern geht von den Beinen aus, über Nacht haben sie sich in wurmstichiges Gebälk verwandelt und ich verbiege sie nach Kräften und ihr Ächzen klingt furchtbar und schmerzhaft in der Stille der Nacht.

Carhaux-PlougerDer Anblick in Carhaix, auf meinem Rückweg, ist verstörend, fast jeder freie Quadratmeter der Kontrolle wird belagert von Erschöpften, in Alufolie oder dünne Zudecken gehüllt, oder ganz ohne Wärmeschutz, und es ist gut möglich, dass sie sich zum Sterben abgelegt haben, und ich frage mich, wie das alles funktionieren soll mit dem Rücktransport, wird das Militär zu Hilfe gerufen werden, mit ihrem Angebot an Zinksärgen, oder werden sie gar heimatfern vor Ort bestattet, weil es anders nicht geht, aber entgegen meinen Befürchtungen bleibt alles ruhig, kein Blaulicht, keine Sanitäter, keine Tragen, nichts von dem Spektakel, wie ich es zuletzt – in der ersten Nacht – vor Loudéac beobachtet habe, am Rande der Stadt, als ein Verunfallter mit großem Tamtam abtransportiert wurde, während sein Rad, das wie herrenloses Kinderspielzeug daneben stand, plötzlich vollkommen nutzlos geworden war, und ich frage mich nun, ob die Menschen hier wirklich so abgestumpft sind, dass sie dem Ganzen tatenlos zusehen. Das alles kann nicht gut gehen. Die Schlangen an der Essensausgabe sind lang und alle Anwesenden bewegen sich jetzt, um vier Uhr morgens, wie in Zeitlupe und wieder bin ich mir nicht sicher, ob ich zu denen gehöre, die sich wie in Zeitlupe bewegen, oder denen, die bereits mit ihrem Leben abgeschlossen haben, aber ich gebe mir eine weitere Chance und dirigiere mich nach einer warmen Mahlzeit noch einmal zur Tür hinaus in die kalte Nachtluft, um diesem Hospiz zu entfliehen.

der dritte MorgenUm halb acht begegnet mir der Franzose aus Grenoble wieder, mit dem ich gestern früh gefahren war, und sein Tritt ist versteinert und wir tauschen nur ein paar Gesprächsfetzen aus und ich halte mich nicht lange bei ihm auf, bedauernd, dass es wieder nichts wird es einer Leidensgemeinschaft, wenngleich bedauernd zu viel gesagt ist, denn zu derartigen Gefühlen bin ich nicht mehr fähig, die Sonne jedoch ist wärmend und ersetzt seine Gesellschaft und der Wind von Norden bläst weniger stark als am Vortag über die kleinen, romantischen, aber ruppigen Straßen, die Hügel und Ortschaften, die man in ihrem pittoresken Charme gleichgültig, aber wohlwollend zur Kenntnis nimmt, ebenso wie die Zuschauergruppen auf Campingstühlen, die Essen oder Trinken bereithalten, um mein einsames Leiden zu verlängern, denn ich finde wieder keine Gruppen, mit denen ich harmoniere, sie sind zu schnell oder zu unrhythmisch.

Am Nachmittag überholen mich zwei Spanier mit einem dritten Fahrer im Schlepptau und wie alle, die mich links liegenlassen, ignoriere ich sie, aber dann habe ich die Nase voll von meiner erschreckenden Langsamkeit, die alles nur hinauszögert, und ich hänge mich dran und folge ihnen die leichte Steigung bergan, die schmalen Kurven durch die offenen Landschaften und es geschieht zu meinem Erstaunen ohne jede Anstrengung, die Beine sind nun wie abgetrennt vom übrigen Körper und kurbeln in ihrer eigenen Umlaufbahn mit eigener Kraft und eigenem Tatendrang, die mit dem darbenden Rest meiner Person nichts zu tun haben – ein eigenartiges Phänomen, wie ich es das eine oder andere Mal bereits an mir beobachtet habe, und im Resultat ist es, als hätte mir jemand Flügel aufgepfropft, die mich mit sich reißen, und in diesem Augenblick wage ich den vermessenen Gedanken, dass meine Leidenszeit vorbei ist, was zur Folge hat, dass ich von nun an beschleunigt meinem Schicksal entgegenrase.

In dieser Phase treffe ich in einem kleinen Pulk auf freier Strecke auf einen Engländer im roten Trikot, den ich seit seit vier Jahren kenne, als wir das erste Mal zusammen in der Provence gelitten hatten, und dessen Rad ich immer wieder an den Abstellanlagen der Kontrollen ausgemacht habe, aber unsere Kontakte beschränkten sich, wenn überhaupt, auf kurze Wortwechsel noch 200 Kilometer– stets war er vor mir und im Aufbruch begriffen – aber nun scheint sich eine Harmonie im Tempo einzustellen, doch schon schießt ein Spanier vor und wirbelt unsere Truppe durcheinander, wartet, schießt vor, wartet, was mich wiederum irritiert, und ich rede ein paar sinnlose spanische Sätze mit ihm und plötzlich ist er wie paralysiert und fällt nicht weiter auf, was darauf hindeutet, dass ich tatsächlich Zauberkräfte entwickelt habe. Gleich darauf stoßen wir auf einen Japaner, der nun sein drittes PBP bestreitet, und zu dritt lösen wir uns an der Spitze ab: der rotgewandtete Engländer, der Japaner mit dem unaussprechlichen Vornamen und ich, während der Himmel sich für die dritte und letzte Nacht verdunkelt.

Villaines-la-Juhel: nach eineinhalb Stunden Schlaf nimmt die Umnachtung ein Ausmaß an, dass mich glauben lässt, wir könnten tatsächlich in Paris ankommen. Schlag Mitternacht sitzt der Japaner beim Frühstück, der Engländer und ich setzten uns dazu und alles, was im Folgenden berichtet wird, muss als Fiktion verstanden werden, entsprungen aus einem japanisch-keltisch-germanischen PBP-Beschwörungsritual, was damit beginnt, dass wir uns um halb eins wieder auf die Strecke begeben und uns zu dritt in einem kosmischen Rhythmus abwechseln, wo wieder der alte Cocker seine spastischen Finger im Spiel haben dürfte, und er krakeelt vom Himmel herunter Feeling Allright, diesmal höre ich es deutlicher, und wir werden gefolgt von einem zunehmend größer werdenden Schweif untergebener Adepten und Jünger, die es nicht wagen, diesen Rhythmus zu brechen, sondern verstanden haben, dass hier Kräfte wirken, die wir alle zuvor niemals erfahren haben, und zehn, zwanzig Glaubensbrüder stürzen sich mit uns atemlos durch die Nacht, und all dieser Wahnsinn zieht sich über Stunden hin und der alte Cocker brüllt wie von Sinnen und das Universum speist uns fortwährend mit Energien und es ist klar, dass, wenn diese einst zurückgefordert werden, wir drei diesen Schuldendienst nicht überleben werden. Vor Mortagne bricht alles auseinander, aber wir retten uns in die Kontrolle, trinken schwarze Brühe mit Milch – Zaubertrank, der uns wieder auf die Beine hilft und uns auf die vorletzte Etappe treibt, im ersten eiskalten Morgenlicht, und der Engländer prescht voraus und ich kann ihm nicht mehr folgen, während der Japaner bei mir bleibt und ich ihn auffordere Go on, if you want und der Japaner want, want stammelt und mir zur Seite steht und der Engländer entschwindet hinter den Wäldern in den Wegbiegungen, was mich taumelnd dazu bringt, mich auf dem zementierten Boden einer verlassenen Bushaltestelle auszustrecken, was wiederum den Japaner dazu veranlasst, sich ebenfalls niederzulegen, ungeschützt der Morgenkälte ausgesetzt, frierend, und die Fiktion will es, dass wir nach einer halben Stunde wieder weiterrauschen, dem Ritual folgend, nur der Engländer ist voraus und wir treffen ihn mit aufgerissenen Augen dösend am Tisch in Dreux, der letzten Kontrolle, schnappen uns Essbares, Trinkbares, füllen den Körper an mit all diesen Köstlichkeiten aus den Händen der Helfer, und längst steht draußen die Sonne am Himmel, als wir die letzten Stunden dieses Rituals feiern, zu dritt, auf Rädern rollend, die nicht von uns, sondern von kosmischen Kräften gehalten werden, vorangetrieben, während wir uns, wie zu Beginn, einfach nur an den Lenker klammern, hoffend, dass alles bald vorüber sein wird, wissend, dass Paris näher und näher kommt und wir irgendwann den Zielbogen erblicken werden, durchfahren werden und mit einem letzten Atemzug von den Rädern fallen werden, die uns über zwölfhundert Kilometer getragen haben, was sich als Illusion herausstellen wird, denn ganz sicher sind wir irgendwo zwischen Paris und Brest zusammengebrochen und haben aufgegeben, uns in irgendein Loch am Straßenrand verzogen, wo uns niemand sieht, um im Fieber vom Ankommen zu phantasieren, von einem Ritual, das sich unser bemächtigt, und uns bis ans Ende unserer Tage glauben lässt, wir hätten geschafft, was, wie wir alle wissen, nicht zu schaffen ist.

Strecke:

1232 km

Höhendifferenz:

11 450 m

Fahrzeit:

49:27 h

Schnitt:

24,9 km/h

Schnitt (brutto):

18,2 km/h

Gesamtzeit

67:41 h