Schneetreiben

Ich habe ein leichtes Faible für die Extreme, aber als ich heute früh aus dem Fenster schaute, schien es mir des Guten doch zuviel. Schnee, soweit das Auge reichte. Schnee auf den Straßen und Wegen, auf den Hausdächern, auf den rauchenden Schornsteinen. Die Welt: weiß wie ein Leichentuch, und das Anfang März. Die Äste der Weiden neigten sich unter der Last fast bis zum Boden und das Dach unseres Gewächshauses bog sich unter den Mengen von Schnee geradeso durch wie jedes zweite Turnhallendach in diesen grausigen Zeiten. Wir konnten von Glück sagen, dass wir für heute keine Massenveranstaltung darin geplant hatten. Und weiter fiel der Schnee, in dicken, selbstherrlichen Flocken.

Später dann, kurz von Mittag, als ich Leergut zum Schuppen brachte, hatte der Wettergott ein Einsehen. Nicht ein Flöckchen rieselte mehr vom Himmel, ja, im selben Moment kam sogar die Sonne hervor. Im Schuppen fiel mein Blick zielsicher auf meine Räder. Wie geschlachtete Kälber baumelten sie von der Decke und mich überkam großes Mitleid. Ich fuhr meinem Lieblingsrad zärtlich übers Oberrohr und glaubte fast zu spüren, wie es angesichts meiner kalten Finger erschauerte. Ich tätschelte liebevoll die Lenker auch der anderen und gab jedem einen aufmunternden Klaps aufs Hinterteil. Dasjenige aber, das mir am bedürftigsten erschien, nahm ich vom Haken und trug es auf die Terrasse, wo es für einen kurzen Moment in der Sonne lehnte, ehe ich es in die Trainingsrolle einspannte, um mich draufzusetzen und im Sonnenschein eine imaginäre Runde zu drehen. Es war eine herrliche Runde. Glitzernder Schnee rund um mich herum, das gedämpfte Surren der Rolle und die Schweißperlen auf meinen bloßen Unterarmen, die zu hauchzarten Kristallen erstarrten.

Am Ende wischte ich mit einem Staubtuch sorgfältig den feinen, schwarzen Abrieb vom Reifen und dem Rollenkern und dachte bei mir, dass ich im Grunde meines Herzens ein guter Mensch bin. Kaum hatte ich diesen schönen Gedanken zu Ende gedacht, wurde ich von einem heftigen Hustenanfall abgelenkt, der aus dem halb geöffneten Fenster des Schlafzimmers drang. Mir kam meine Frau in den Sinn, die dort mit einer Grippe und fast 39° Fieber im Bett lag und leise beschlich mich der Verdacht, dass ich wieder irgendetwas falsch gemacht hatte.

März 2006