Freud lässt grüßen oder Es kann nicht schwer genug sein

ARA Breisgau: 200 km    Freiburg, 11. April 2015, 8:30 Uhr


Der Langstreckenfahrer neigt dazu, das 200-Kilometer-Brevet zu verharmlosen. Ja, als echter Routinier fragt man sich schon mal, ob es sich überhaupt lohnt, für diese Distanz aufzustehen. Von derlei Zweifeln geplagt, setzt man sich am Vorabend des 11. April 2015 an den Stammtisch, wo sich die von weit her Angereisten schon bald in Scharen zugesellen. Viel Neues gibt es zu erzählen, Altes aufzuwärmen und das Gewesene nachzubesprechen. Allem voran natürlich die Premiere des vor zwei Wochen abgehaltenen Mont-Ventoux-Brevets, das mit seinen sechshundert Kilometern ein richtiges Brevet ist und keine Vorstufe davon, wie das Breisgau-Brevet des folgenden Tages. Selbstverständlich werden zu späterer Stunde auch gesellschaftlich relevante Themen besprochen, wie etwa der Trainingsnotstand der selbständig Arbeitenden oder ob man im Teilchenbeschleuniger CERN in Genf mit dem Rad seine Runden drehen könnte. Man erkennt daran die enorme Vielseitigkeit eines solchen Abends und um dem Ganzen einen Rahmen zu verleihen, bestellt man ganz am Ende noch eine Lage Abschlussbier. Und weil die Nacht verdammt kurz sein würde und der nächste Tag auf dem Rad entsprechend hart, ist es keine Frage mehr, ob man sich aus dem Bett quält. Wenn Mitternacht auf der Wirtshausuhr erst einmal durch ist, steigt der Reiz der anstehenden Prüfung und die Freude aufs Weckerklingeln um halb sechs wächst mit jeder Minute.

Man weiß von den Veranstaltern eines solchen Brevets, dass sie die drohende Langeweile auf der Kurzdistanz mit Steigungen zu bekämpfen suchen. Davon gibt es tatsächlich nicht wenige. Insbesondere das Breisgau-II-Brevet mit seinen 2800 Höhenmetern lässt kaum Wünsche bezüglich einer Verschärfung des Schwierigkeitsgrades offen. Jedenfalls, wenn das Wetter nicht mitspielt, was nochmals ein Punkt für sich ist. Aufstieg zum SpirzenBei schönem Wetter kann jeder fahren. Das wissen auch die beiden Organisatoren. Man sollte deswegen ihren Unschuldsmienen nicht allzu sehr vertrauen, wenn sie behaupten, sie könnten nichts fürs schlechte Wetter, das ausgerechnet an diesem Tag die Südwest-Ecke Deutschlands heimsucht. Längst wissen wir um die Möglichkeiten, das Wetter zu beeinflussen - Stichwort Geoengeneering. Sollte dieser nach unten weisende Zacken in der ansonsten konstanten Temperaturkurve der vergangenen und der nächsten Woche tatsächlich Zufall sein? Lächerlich.

Wie dem auch sei: Mit ein paar lausigen Stündchen Schlaf fährt sich's gleich schon mal beschwerlicher an, wenn man dann endlich auf der Strecke ist. Zuvor der übliche Trubel, Frühstück, Kartenausgabe, Ansprache, die Punkte in der Karte, die zum Start berechtigen. Und dann der graue Himmel vor sich, der sich übers Dreisamttal spannt. Nach zehn Kilometern denke ich: Au weia. Gerade mal fünf Prozent der Strecke. Zu solch einem frühen Zeitpunkt gehen Rechenoperationen dieser Art noch einigermaßen leicht vonstatten. Dann folge ich den anderen Fahrern vor mir, die sich in Wagensteig rechter Hand in die Auffahrt zum Spirzen begeben, und schon sind wir bei zwölf Prozent. Steigungsprozente allerdings.

auf dem thurnerMan erfährt von anderen, dass auch dort die Bemühungen um sich greifen, das ganze Vorhaben härter zu machen, als unbedingt nötig. So gibt es den einen berüchtigten Freiburger Randonneur, der die erste Kontrolle in Hammereisenbach erst einmal ignoriert, um zehn Kilometer später wieder kehrt zu machen und im Anschluss den Stempel zu holen. Oder den altgedienten Kollegen aus Trier, der ebenfalls die Kontrolle 1 links liegen lässt, Kontrolle 2 anfährt und dann zurück zur Kontrolle 1 fährt. Andere fahren den Umweg über Furtwangen. Dem Erfingunsreichtum sind keine Grenzen gesetzt. Sollte es nicht absichtlich geschehen sein, so handelt es sich meiner Meinung nach um Freud'sche Fehlleistungen.

im LinachtalDer einsetzende Regen in Neukirch lässt meine Mitfahrer kalt. Nicht einer, den ich klagen höre. Die Leute sind total abgebrüht. Wie soll man solche Menschen überhaupt noch zufriedenstellen? Sie fahren dreckverschmiert durch Freiamt. Jagen über Schotterwege. Fangen sich Reifenpannen ein. Alles ohne Murren. Nur von einem höre ich, der allen Prognosen zum Trotz ohne Regenjacke gestartet ist - sicherlich auch, um die persönlichen Grenzen zu verschieben - und den Bettel hinschmeißt. Man wächst mit seinen Herausforderungen, aber natürlich kann man auch daran scheitern. Bestimmt klappt's beim nächsten Mal.

Endingen, vierte KontrolleIn Endingen, der vierten Kontrollstelle, sammeln wir uns in einer Zehnergruppe, um gemeinsam dem heftigen Wind auf unserem Weg nach Süden die Stirn zu bieten. Hier ist es übrigens auch, wo der Newcomer, der Annehmlichkeiten wie Radhose oder Klickpedale als Teufelszeug verdammt, sein Reiserad an einen Schuhladen lehnt, um sich ein Paar neue Treter zu kaufen, weil die anderen im Regen komplett aufgeweicht sind. An solchen Einzelfällen erkennt man zur großen Freude aller Beteiligten, dass es selbst auf auf der Kurzdistanz zu Situationen kommen kann, wo die Teilnehmer bis in ihre Grenzbereiche vordringen. Unabhängig davon rauscht unsere Gruppe in Richtung Ihringen am Kaiserstuhl, in zunehmendem Gegenwind.

in den Weinbergen des KaiserstuhlsMein Missgeschick zu Beginn jenes 40-Kilometer-Flachstücks, wo der Wind am schärfsten reinfährt, könnte ich plausibel mit dem Schlafmangel und der damit einhergehenden Ermüdung erklären. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Tatsache, genau hier abreißen und meine Gruppe trotz verzweifelter Gegenwehr ziehen zu lassen, einer Freud'schen Fehlleistung geschuldet ist. Ein 200-Kilometer-Brevet kann nicht schwer genug sein. Auch andere wähne ich als Opfer einer solchen Intervention des Unterbewussten: der mit der Kollision und anschließenem Sturz, mit der Folge zweier gebrochener Sattelstreben, die ihn für fünfzig Kilometer zur Weiterfahrt im Stehen nötigen. Auch er scheitert an seiner eigenen Herausforderung und besteigt den Zug. Von einem anderen wird berichtet, dass er nach seinem dritten Plattfuß kurzerhand die letzten siebzig oder achzig Kilometer auf der Felge fährt. Das zeugt von Charakter. Dann wäre da noch von dem bereits erwähnten Freiburger Hasardeur zu erzählen, der sich aus lauter Übermut über die Stufen der Fußgängerbrücke, die bei Auggen über die Bahngleise führt, per Rad nach unten stürzt. Den Mitfahrern stockt der Atem, als er gegen das Geländer knallt. Ganz ohne Blut geht es natürlich nicht ab, aber immerhin steigt er nach dem Ende seines Experiments wieder aufs Rad.

Mir persönlich - allein im Gegenwind - dreht's vor lauter Anstrengung den Magen um und von Zeit zu Zeit durchzieht ein Krampf meine Innereien. Alles harmlos und wirklich nicht lebensbedrohlich. im Markgräfler LandAber trotzdem freue ich mich sehr, als ich an der südlichen Kehrtwende wieder auf Freunde treffe, die sich darauf einlassen, die letzten vierzig Kilometer mit mir zusammen zu bestreiten. Mindestens der eine von den beiden ist, wenn man seinen Aussagen Glauben schenken darf, platt wie eine Flunder, aber voller Entschlossenheit, in den nächsten zwei Stunden das Ziel in Freiburg zu erreichen - womit wir uns auf einer Wellenlänge befinden. Zwei Stunden für eine solche Strecke hört sich in den Ohren versierter Fahrer wie ein Witz an. Ist aber keiner. Die Hügel des Markgräfler Landes sind mörderisch und diese zwei Stunden werden alles andere als einfach. Aber das war ja auch niemals beabsichtigt.

Mehrere Zeitzeugen geben im Nachhinein unabhängig von einander zu Protokoll, dass das 600-Kilometer-Brevet zum Mont Ventoux Ende März viel leichter gewesen sein soll als dieser Zweihunderter. Was nur den Schluss zulässt, dass das Brevet in die Provence einfach zu leicht war. Bestimmt könnte man daran noch feilen.

Strecke:

214 km

Höhendifferenz:

2810 hm

Fahrzeit:

8:14 h

Schnitt:

25,9 km/h

Gesamtzeit:

9:00 h

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