Pontarlier – St. Jean-de-Sixt

Montag, 2. September 2019   


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Während des Zeltabbaus erzählt mir mein Nachbar von einem Radlerkollegen, den er im vergangenen Jahr hier getroffen habe. Dieser sei – lediglich mit Schlafsack und Biwaksack ausgerüstet – für 40 Tage unterwegs gewesen – eine Art spirituelle Übung, die er jedes Jahr zu machen pflege, um nach den vielen Nächten auf blankem Boden den Wohlstand des Alltags wieder neu wertschätzen zu können. Gleich komme ich mir vor wie ein Weichei und mit meinen sechs Kilo Reisegepäck als das reinste Luxusgeschöpf. Ich treffe den Nachbar nochmals an der Rezeption. Er würde mich gerne zum Kaffee einladenLac de Joux, was ich aber angesichts meines heutigen Pensums ausschlagen muss. Ich habe den Eindruck, dass er sich mir gerne angeschlossen hätte.

Von Pontarlier halte ich zunächst auf Mouthe zu, vorbei am Château de Joux, das über dem wolkenverhangenen Tal thront. Unweit von hier entspringt der Doubs, der sich in unendlich vielen Kehren durchs Jura zieht, bis er sich endlich, nach 450 Kilometern, bei Chalons dazu entschließen kann, sich mit der Saône zu vereinigen, Luftlinie keine 100 Kilometer von seiner Quelle entfernt – ein widerspenstiger Geselle.

In Mouthe gibt es womöglich die letzte Gelegenheit, im örtlichen Supermarkt die Einkäufe fürs Mittagessen zu tätigen – ob danach noch Geschäfte kommen, ist angesichts der dünnen Besiedelung alles andere als sicher, und da ich im Urlaub bin, belade ich meine Lenkertasche wie ein echter Tourist. Zunächst folge ich dem Hochtal hinter Mouthe, bevor mich vor Bellefontaine eine schmale Straße inmitten dichter, sattgrüner Wälder in einer Achterbahnfahrt zum Jura-Hauptkamm auf 1200 Meter hochführt. Genfer SeeAuf der anderen Seite nehme ich – vorbei an Les Rousses und la Cure – in Saint-Cergue die letzte Hürde vor dem Genfer See. Ein Picknicktisch kurz danach dient mir als Ausgangspunkt für eine komplexe Meditation über das Glück des Radreisenden als solchem im Verbund mit einer Dose Bier und einer Portion Krautsalat unter Einbeziehung der bezaubernden Aussicht über den Genfer See und die ihn umgebenden Berge. Der Seelenfrieden ist höchstens einen Steinwurf weit entfernt.

Nach 120 Kilometern ist Genf erreicht. Eine steife Brise, die mich die letzten Stunden kräftig unterstützt hat, fegt durch die Stadt und sorgt für heftigen Wellengang auf dem See, die rot-weißen Flaggen am Pont du Mont-Blanc knattern im Wind, als feuerte just auf dieser Brücke die Schweizer Armee gegen einen imaginären Feind. Man wünschte sich, sie würde mit ihren Karabinern die Invasion der Blechkisten verhindern, aber zwischen den Häusern, die hier vorzugsweise herrschaftlicher sind als woanders, rollen wie überall Stoßstange an Stoßstange Fahrzeuge, die hier bisweilen bulliger sind als woanders. Glücklicherweise gibt es auch Radverkehr, so dass ich mich auch ohne den Schutz der Schweizer Armee in guter Gesellschaft fühle.

BonnevilleDie Kulisse, die sich hinter dem Genfer See aufbaut, tröstet kaum über die Verkehrsverhältnisse auf den verbleibenden 25 Kilometern nach Bonneville hinweg. Augen zu und durch, heißt die Devise, wenn man von Genf aus den Rand der Alpen per Rad erreichen möchte, was man allerdings keinesfalls wörtlich nehmen sollte: die Überholmanöver sind nicht immer von Respekt gegenüber dem Radfahrer geprägt.

Meine Vorgabe ist die: erreiche ich vor 17 Uhr Bonneville, fahre ich weiter, wenn nicht, bleibe ich für die Nacht hier. Um 16:30 Uhr fällt die Entscheidung: ich fahre weiter, hinein in den ersten Alpenpass dieses Jahres, den Col des Aravis. Ich hatte gehofft, zu dieser Stunde hätte der Verkehr bereits nachgelassen, werde aber eines Besseren belehrt. Der Col des Aravis ist allem Anschein eine beliebte Nord-Süd-Verbindung zwischen Genfer See und Annecy.Auffahrt zum Col des Aravis

In Saint-Jean-de-Sixt, zehn Kilometer vor der Passhöhe kommen die Räder für diesen Tag zum Stillstand – zunächst vor einem Supermarkt, dann ein letztes Mal auf dem Campingplatz. Ein kühler Wind bläst hier oben auf knapp tausend Meter und ich vermisse ein windstilles Plätzchen, um mich dem kulinarischen Teil des Abends zu widmen. So koche ich auf einer Bank im Windschatten der sanitären Anlagen mein Süppchen, froh über etwas Warmes im Leib. Über meinem vermummten Haupt spannt sich ein makelloser Sternenhimmel auf, Vorbote einer kalten Nacht im Gebirge.

Strecke:

173 km

Höhendifferenz:

1930 m

Schnitt:

22,1 km/h

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