Vom freien Willen

An bestimmten Tagen frage ich mich, weshalb es gerade mir passieren musste, dass mich eine nicht weiter zu hintergehende Schicksalsmacht, ohne mit der Wimper zu zucken, in die eisgrauen Landschaften hinausschickt, um mich der Körperertüchtigung zu widmen.

Ich könnte natürlich zuhause bleiben. Eigentlich wäre es ja das Nächstliegende. Es gäbe in der beheizten Stube genug zu tun. Der Beweis gegen die Existenz des freien Willen ist in meinen Augen der, dass es Leute gibt, die bei jedem Wetter Rad fahren. Sie fahren mit roten, triefenden Nasen über die eisglatten Straßen und benetzen alle paar Pedalumdrehungen unter kräftezehrendem, eruptiven Rotzen die Feinteile des Winternebels mit ihren schleimigen Sekreten. Mit freiem Willen hat dies nichts zu tun.

An einem der vergangenen Abende redete ich mir ein - um diesen Abgründen meiner Existenz erst gar nicht ins Auge sehen zu müssen - dass ich unbedingt jenseits der Nebelgrenze gelangen müsste. Ein mir selbst verschaffter Blick auf die über waberndem Nebel untergehende Sonne schien mir die einzige Möglichkeit überhaupt, einen Tag wie diesen zu retten.

Mein Rad ist mir in diesen Fällen ein absolut loyaler Gefährte und eine Zeitlang ging es auch gut mit uns beiden. Es gab lichte Momente, wo ich mehr als die Hand vor Augen sehen konnte, und mir schien mein Unternehmen recht vielversprechend. Dann schraubte ich mich die Kehren nach Sankt Märgen hoch und die sichtbaren Mittelstreifen wurden weniger und weniger und das Bedürfnis, aus diesem eintönigen Nichts herauszukommen, immer drängender. Gleichzeitig legte sich das Wissen darum, dass die Sonne - wenn sie denn irgendwo in der nördlichen Hemisphäre zugegen sein sollte - spätestens in der nächsten Viertelstunde hinter den verschneiten Schwarzwaldhöhen untergegangen sein dürfte, wie ein dunkler Schleier über mein Gemüt. Ein schlimmer Zustand.

Zwangsläufig legte ich an Tempo zu. Ich hörte, wie die Eiskristalle der Winterluft in den engeren Passagen meiner Luftröre zersplitterten, während der feuchtigkeitsgesättigte Atem meine Brille beschlug. Die Sonne blieb ein Phantom. St. Märgen lag vor mir, in bleiches Leinen gehüllt, abgeschnitten vom Universum. Gegen den Absturz wusste ich jetzt nur noch eine Gegenmaßnahme: das Aufbäumen. Meine Strategie war, weiter zu fahren, hinauf in Richtung Thurner. Ich würde - so mein Kalkül - schon kurz hinter Sankt Märgen die Sonne hinter dem Feldberg untergehen sehen. Als ich die mutmaßliche Stelle erreicht hatte, hatte sich um mich herum nichts geändert. Kein Feldberg weit und breit. Nur ich, mein aschgraues Rad und rings um uns herum ein paar Handbreit Straße. So wollte ich mich dem Wahnsinn nicht überlassen. Nicht hier. Ich nahm all meinen Mut zusammen fuhr weiter bergan.

Oben auf dem Thurner waren die Nebel gewichen. Obwohl es zwischenzeitlich Nacht geworden war, ahnte ich, dass meine Stimmung in Glück umschlagen würde. Damit schwanden wieder alle Chancen, aus den schicksalshaften Vorgängen dieses Abends meine Lehren zu ziehen.

Januar 2013